Prophetengift: Roman
Topf und sog das Aroma ein. »Ich wünschte, ich wüsste, was ich tun soll. Das riecht übrigens fantastisch.«
»Ich glaube, du weißt bereits, was du tun solltest«, sagte Reed. »Und vielen Dank.«
»Was meinst du?«
»Du hast gerade einige sehr überzeugende Gründe dafür aufgezählt, dass es gut wäre, einen Kontakt mit der Familie anzubahnen, und zwar je eher, desto besser. Du solltest dir mal selbst zuhören.«
»Finde ich auch!«, rief eine Stimme aus dem Nebenraum. »Und während ich ungebeten meine Meinung dazu darlege, könnt ihr euch hinsetzen und dieses Schauspiel ansehen!«
Reed folgte Sebastian aus der Küche in das riesige Wohnzimmer. Tess saß in einem Clubsessel neben den Schiebetüren, die auf die Terrasse und den See hinausgingen. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß und ein zweiter fast durchgelesener Roman lag auf dem Tisch neben ihr. Maxi döste zu ihren Füßen. »Du solltest die Familie des Jungen anrufen und ihnen sagen, was sie wissen müssen«, teilte sie Sebastian mit. »Und dann lass sie entscheiden, welche Rolle, wenn überhaupt eine, du im Leben des Jungen spielen sollst. Moralisch gesehen ist es ihre Entscheidung und nicht deine – egal, welche gesetzlichen Rechte du haben magst. Also hört jetzt auf, euch verrückt zu machen, und lasst uns die Aussicht genießen.« Mit funkelnden Augen wies sie auf das Fenster.
Sebastian und Reed drehten sich um. Es schneite.
Reed ergriff seine Hand. »Das letzte Mal habe ich Schnee gesehen, als ich vor all diesen Jahren mit Jeremy hier oben war.«
Sebastian nahm sie in die Arme. »Auf dieser fürchterlichen
Reise, von der du mir erzählt hast? Wo Ellie ihn mit Coby erwischt hat?«
»Jetzt kann ich darüber lachen.« Reed lächelte schwach. »Ich nehme an, dass Jeremy uns das Haus angeboten hat, zeigt, wie schuldig er sich immer noch fühlt, weil unsere Beziehung auf diese Weise zu Ende gegangen ist. Es wird Spaß machen, wenn Ellie und Coby am Wochenende zu Silvester hochkommen; wir haben sie so lange nicht gesehen, dass ich mich tatsächlich darauf freue, sie streiten zu hören.«
Tess legte ihr Buch hin und linste über ihre Brille hinweg. »Und es war nett von euch, dass ihr eine alte Dame mitgeschleppt habt. Ihr habt ja keine Ahnung, wie schön es für mich ist, dass ich Weihnachten mit euch feiern darf und Silvester mit Ramon und seiner Familie. Vielen Dank euch.«
»Du bist doch nicht alt! «, sagte Reed. »Und du bist uns sehr willkommen.«
»Wir hätten auf keinen Fall zugelassen, dass du das erste Weihnachten danach allein feierst«, fügte Sebastian hinzu. »Ich wünschte nur, Libby könnte bei uns sein.«
»Ich kann kaum glauben, dass sie jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr bei uns ist«, sagte Tess traurig. »Übernächsten Monat ist die Jahrzeit und ihr Grabstein wird gesetzt.« Sie schaute nach draußen und zeigte mit dem Finger. »Die kleine Zeder da drüben bei diesen Felsbrocken da sieht aus wie der Weihnachtsbaum, den ich letztes Jahr um diese Zeit gefällt habe. Als ich ihn bei uns im Landgasthof aufgestellt habe, kam Libby mit ihrem Rollstuhl angerollt und sagte: ›Das wird mein letzter Weihnachtsbaum sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich, ein jüdisches Mädchen, mal traurig darüber sein würde.‹
Ich tat natürlich so, als hätte ich sie nicht gehört, und schmückte weiter den Baum. Dann, ein paar Monate später, als es so schnell mit ihr bergab ging, stieß ich in der Garage auf einen alten, schäbigen Plastikbaum. Ich habe ihn rausgezerrt
und auf ihrer Bettseite aufgestellt. ›Ich wette, du denkst diesmal wieder, dass es dein letzter Weihnachtsbaum sein wird, aber du irrst dich‹, sagte ich zu ihr. Wie sich herausstellte, war es doch ihr letzter Weihnachtsbaum, aber er steht immer noch in unserem Schlafzimmer. Ich habe eine Zeitschaltuhr angebracht, und jeden Abend um fünf, wenn sie am liebsten zu Abend aß, gehen die Kerzen an.«
Tess nahm ihre Brille ab und betupfte sich die Augen mit dem Hemdsärmel. »Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn es dunkel bleibt, wenn ich abends an unserem Schlafzimmer vorbeigehe.« Sie lächelte Sebastian und Reed an. »Und es ist komisch, aber manchmal erwische ich Maxi, wie er unter dem Baum schläft. Er sieht aus wie ein pelziges Geschenk. Es ist, als würde er darauf warten, dass Libby zurückkommt und ihn wieder auf den Schoß nimmt.«
Das Trio schwieg für eine Weile. Während Tess ihre Trauer erneut durchlebte, hörte Reed ein Echo von Libbys Lachen
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