Prophetengift: Roman
von der Sebastian einmal gesprochen hatte.
Reed verbrachte die Nacht ebenfalls im Krankenhaus. Eine freundliche Krankenschwester hatte ihr erlaubt, sich in ein freies Bett im Nebenzimmer zu legen. Dort konnte sie schlafen, weil ihre Intuition ihr sagte, dass Sebastian in guten Händen war und wieder gesund werden würde. Als Stimmengemurmel und
das Schlurfen und Geklapper der Frühschicht sie am nächsten Morgen weckten, rollte Reed sich aus dem hohen Krankenhausbett und tapste auf Socken ins Nebenzimmer. Dort erblickte sie Kitty, die sich in einen Holzstuhl mit Armlehnen zusammengekuschelt hatte, die Füße untergeschlagen, die Arme um die Knöchel geschlungen.
»Kitty?«, flüsterte Reed. »Bist du wach?«
Kitty hob langsam den Kopf und blinzelte durch ihre Ponyfransen hindurch. »Wie hätte ich schlafen sollen? Dieses Beatmungsgerät hat die ganze Nacht gekeucht und geknirscht.«
»Wie geht es Sebastian?«
»Er ist am Leben«, erwiderte Kitty. »Gott sei Dank.«
»Du siehst erschöpft aus. Brauchst du eine Pause?«
»Ich werde ihn nicht allein lassen.« Kitty streckte langsam Beine und Arme, als wäre sie die ganze Nacht in einer Holzkiste gefangen gewesen.
»Was haben sie über seinen Zustand gesagt?«
»Alle zehn Minuten ist jemand gekommen, um den Sauerstoffgehalt seines Blutes, den Blutdruck, die Infusionen und alles zu überprüfen. Seine Lebenszeichen haben sich stabilisiert, sagen sie, die Lungen arbeiten wieder und sein Urin ist klarer. Aber eine Rippe ist furchtbar zerschmettert, also mussten sie eine Ewigkeit nach Splittern suchen, und sie sagen, es kann drei bis sechs Monate dauern, bis er wieder ganz gesund ist.« Kitty verzog das Gesicht und kämpfte gegen die Tränen an. »Er wäre fast gestorben, Reed. Der Arzt sagt, er hat im Krankenwagen einen Herz-Kreislauf-Stillstand gehabt!«
»Ich war dabei.«
»Was hast du getan?«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe, ich habe ihn angefleht mich nicht zu verlassen – und ich habe gebetet.«
Tränen liefen Kitty über die Wangen. »Ich bin so froh, dass du dort warst.«
»Du hättest dasselbe getan.«
Kitty seufzte und ihre tränenverschleierten Augen waren auf Sebastian gerichtet. »Liebe«, sagte sie. »Evo-Love. Dieses ganze blöde Gerede über Liebe ... das ist mein Geschäft, das Verkaufen von Liebe, obwohl ich sie nicht weggeben, ja nicht einmal von meinem eigenen Sohn erkaufen kann. Ha! Ich hätte unsere gottverdammte Religion Evil Love nennen sollen.«
Kitty schloss die Augen, holte tief Luft und schaute zu Reed auf. »Ich habe versucht, ihm die Liebe zu geben, die er brauchte, aber er hat mich nie gebraucht. Also habe ich aufgegeben.« Sie wischte sich die Tränen ab. »Du hättest ihn als kleinen Jungen sehen sollen. Immerzu hat er gelacht, und er konnte in ganzen Sätzen reden, bevor er zwei war. Und er war ein so schönes Kind – als wäre er einem Renaissance-Gemälde von Maria und dem Jesusknaben entsprungen. Die Leute haben mich auf der Straße angesprochen, sie guckten mich an und schauten Sebastian an und sagten, oh, was für ein süßes Kind, und ich wartete immer schon auf die Frage, die danach kam, nämlich wessen Kind das denn sei – als wäre es undenkbar, dass ich ein so anbetungswürdiges Geschöpf geboren hätte.«
»Aber du bist doch eine schöne Frau«, meinte Reed. »Warum sollten die Leute so etwas denken?«
»Zum einen hat er die Haare seines Vaters geerbt und nicht die hier.« Kitty zerrte an ihren schwarzen Locken. »Aber vor allem lag es an Sebastians magnetischer Anziehungskraft. Schon in der Vorschule scharwenzelten die Lehrer um ihn herum und die Kinder kämpften darum, sein bester Freund zu sein. Später, nachdem er ein Mann geworden war, wurde es schlimmer – die Mädchen und auch einige der Jungen waren ganz besessen von ihm. Es war, als wäre er eine Art Droge für sie, und sie hätten alles getan, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Und wenn die Eltern ihn zu Geburtstagen und Pyjamapartys einluden, trafen sie auf mich, und dann kam meistens die Reaktion: Dieser
gut aussehende blonde Junge ist ja so entzückend und so charmant, aber seine Mutter ist ein Biest.
Ein Teil von mir war eifersüchtig auf ihn, wie diese unglückseligen Mädchen, dessen Mütter hübscher sind als sie, nur war es noch schlimmer. Sebastian wurde immer geliebt, aber die beste Reaktion, auf die ich hoffen konnte, war, toleriert zu werden – besonders von Männern.«
Plötzlich erschien eine Schwester, also
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