Prophezeiung der Seraphim
fragen. Doch er würde sich nicht die Blöße geben, darum zu bitten. In einem Winkel seines Hinterkopfes flüsterte eine leise Stimme, dass es sich noch als nützlich erweisen könnte, Augen und Ohren offenzuhalten.
»Erstmal müssen wir so weit von der Stadt weg wie nur möglich.« Fédéric schob Nicolas beiseite. »In den Wäldern haben diese sabbernden Fledermäuse es viel schwerer, uns zu finden.«
»Dann halten wir uns ungefähr nach Westen und meiden offene Straßen soweit wie möglich.« Julie sah zu Ruben hinüber und ihm fiel auf, wie hell und klar ihre Augen waren. »Einverstanden?«, fragte sie.
Ruben nickte, bemüht, sich die Freude darüber, dass sie ihn einbezogen hatte, nicht anmerken zu lassen. Jetzt kam sie zu ihm und berührte seinen Arm. »Später sprechen wir über alles«, flüsterte sie. »Aber erst müssen wir uns in Sicherheit bringen.« Dann wandte sie sich wieder an Nicolas. »Fliegen die Cherubim auch tagsüber?«
»Sie würden zu sehr auffallen, darum bleiben sie bei Tageslicht normalerweise in ihrem Unterschlupf. Aber in dieser Lage wäre denkbar, dass meine Mutter sie dennoch aussendet. Wir dürfen uns nie sicher fühlen.«
Ruben bemerkte, wie Fédéric schaudernd die Schultern hochzog und sich vor Ekel schüttelte. Er war also nicht der Einzige, dem vor ihnen graute.
Sie orientierten sich am Stand der Sonne und hielten sich auf den staubigen, mit Schlaglöchern versehenen Straßen in Richtung Südwesten, um sich der Stadt nicht wieder zu nähern. Die Gegend war ländlich, es gab viele Gemüsepflanzungen, Obstgärten und Getreidefelder. Dazwischen standen immer wieder Windmühlen, deren Flügel sich träge drehten, und es gab kleine Dörfer mit nied rigen Häusern, zwischen denen spitz die Kirchtürme hervorragten. Auf den Feldern wurde gearbeitet, doch kaum jemand schenkte der kleinen Gruppe und der weißen Katze Aufmerksamkeit.
Ruben trottete den anderen hinterher und sah die meiste Zeit auf seine staubigen Füße. Sie sprachen nicht viel. Fédéric blickte immer wieder zum Himmel und fiel mehrmals beinahe hin, bis Julie ihn anherrschte, er solle lieber nach vorne sehen. Plötzlich ertönte ein seltsames Knurren, und nachdem sich das Geräusch wiederholte, stellte Ruben fest, dass es sein Magen war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hatte – es musste vor zwei Tagen gewesen sein. War er denn der Einzige, der körperliche Bedürfnisse verspürte?
»Könnten wir vielleicht irgendwo etwas essen?«, wagte er zu fragen.
Nicolas blieb stehen. Sein helles Haar glänzte im Sonnenlicht, er sah aus wie der Held aus einem Märchen. Neben ihm kam Ruben sich klein und unbedeutend vor, und er bereute bereits, dass er etwas gesagt hatte.
»Du hast also Hunger?« Nicolas verschränkte die Arme. Ruben nickte, aber es gelang ihm nicht, Nicolas’ Blick standzuhalten.
»Dann will ich dir mal was erzählen, Bürschlein. Wenn die Cherubim uns finden, werden sie mit Genuss Stücke aus unseren Leibern reißen. Ganz besonders gut munden ihnen die Gedärme.«
Ruben wurde flau im Magen. Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich glaube, ich halte noch eine Weile durch.«
Nicolas nickte zufrieden und wandte sich ab. Nun sprach niemand mehr, nur das Scharren ihrer Füße und das Gezwitscher der Vögel war zu hören. Ruben stellte sich vor, wie es wohl wäre, die Gedärme herausgerissen zu kriegen, obwohl man unsterblich war, und fragte sich, wie das möglich sein sollte. Würde er selbst dann noch existieren? Diese Unsterblichkeit war eine verzwickte Geschichte, und er nahm sich vor, Julie danach fragen, sobald sie eine Pause machen würden.
Am späten Vormittag erreichten sie endlich den Rand eines riesigen Waldes, auf den sie sich die ganze Zeit über zubewegt hatten. Ruben atmete auf, als sie in den kühlen Schatten der Kastanien und Eichen traten.
Sie arbeiteten sich bereits einige Zeit durch dichtes Unterholz, als sie auf eine breite, grasbewachsene Schneise stießen, die sich schnurgerade durch den Wald zog.
»Was ist das?« Julie drehte sich ratlos einmal um sich selbst.
»Ein Trampelpfad für Riesen«, sagte Fédéric und grinste.
Nicolas musterte ihn herablassend. »Wir sind im Jagdwald des Königs, Monsieur. Wie sollten sonst wohl die Kutschen der Hofgesellschaft der Jagd folgen?«
»Du willst mich veralbern, oder?«
Nicolas seufzte. »Ein ungehobelter Klotz wie du kann das natürlich nicht wissen.«
»Die schaukeln hier also mit ihren Kutschen
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