Prophezeiung der Seraphim
durch und gucken zu, wie der König Hasen schießt?« Fédéric lachte, und auch Julie musste grinsen.
Nicolas wandte sich beleidigt ab. »Jedenfalls müssen wir uns vor den Wächtern vorsehen«, brummte er. »Und so schnell wie möglich den königlichen Wald hinter uns lassen – denn euer guter Vater ist einer der engsten Berater des Königs, der stets in seiner Nähe weilt. Es wäre möglich, dass Cherubim hier herumschwirren.«
Darauf führte Nicolas sie immer tiefer in den Wald hinein. Dornenranken rissen an ihren Kleidern und Zweige schnellten ihnen ins Gesicht, aber die Furcht vor den Cherubim trieb alle voran.
Bis Fédéric plötzlich rief: »Brombeeren!«
Ruben spähte ins Gebüsch, und tatsächlich hingen zwischen den Dornen schwarz-rötliche Beeren. Sofort fielen sie über die Früchte her, rissen sie von den Ranken, und obwohl sie sich dabei noch mehr zerkratzten, war es köstlich, die reifen Beeren mit der Zunge zu zerquetschen und den süß-sauren Saft zu schlucken.
Als alle satt waren, entschied Julie, dass sie sich kurz ausruhen konnten. Sie suchten sich eine kleine Lichtung und fielen ins Gras. Furcht und Aufregung, die sie bisher vorangetrieben hatten, verwandelten sich in Müdigkeit.
Während Nicolas und Fédéric sich ausstreckten und die Augen schlossen, kam Julie zu Ruben und setzte sich neben ihn. »Das muss alles sehr verwirrend für dich sein«, begann sie, und dann erzählte sie von ihrem bisherigen Leben, vom Erscheinen der Comtesse im Uhrmacherladen und vom Tod ihrer Pflegeeltern.
Ruben konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken: Es war schrecklich, dass sie ihr Zuhause verloren hatte, aber immerhin hatte sie fünfzehn Jahre lang eines gehabt. Sie war geliebt worden, hatte weder gehungert noch gefroren. Er hatte nichts dergleichen gekannt. Der Priester hatte ihn zwar Schreiben und Rechnen gelehrt, aber Liebe hatte er Ruben nicht gegeben, und bei Bauer Grimaud war er stets der Letzte gewesen, ob es nun um Nahrung, Wärme oder Kleidung ging.
Doch er wollte kein Mitleid, und so erzählte er Julie nur das Nötigste darüber, wie er aufgewachsen war. »Ich hab mir aber immer vorgestellt, dass meine Eltern etwas Besonderes sind«, sagte er zum Abschluss. »Weil mein Amulett auch etwas Besonderes ist. Durch Zufall hab ich rausgefunden, dass ich Heilkräfte habe. Kurz danach hat die Comtesse mich meinem Meister abgekauft.«
Julie pflückte einen Grashalm und wickelte ihn sich geistesabwesend um den Finger. »Nicolas’ Mutter hat dich aufgespürt, weil du deine magische Gabe benutzt hast, genau wie bei mir. Deshalb müssen wir ab jetzt immer unsere Amulette tragen, bis wir weit entfernt von Paris sind. Du kommst doch weiter mit uns, oder?«
»Habe ich eine Wahl? Wo liegt eigentlich dieses St. Malo genau?«
Er bemerkte, dass Julie kurz zögerte, bevor sie ihm antwortete. »Im Westen an der Küste. Dort lebt ein gewisser Plomion, der meinem Vater helfen wollte, ein Gerät zu bauen, mit dem man die Seraphim besiegen kann. Dann ziehen wir weiter zum Mont St. Michel und werden genau das versuchen. Ich werde die Seraphim davon abhalten, die Menschen zu versklaven. Und wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, unsere Mutter zu befreien, werde ich sie finden!«
Ruben brauste auf. »Unsere Mutter hat uns nicht gewollt! Sie hat uns weggeschickt!«
Julie schüttelte den Kopf. »Die Comtesse hat die Wahrheit verdreht, Ruben. Rhea wollte uns in Sicherheit bringen. Bestimmt ist es ihr schwergefallen, uns wegzugeben.«
Sie wollte seine Hand nehmen, aber er zog sie weg.
»Mich hat sie jedenfalls nicht geliebt, sonst hätte sie mich zu Leuten geschickt, die gut zu mir sind!«
»Ich hoffe, sie kann dir irgendwann selbst sagen, dass es nicht so war«, erwiderte Julie ruhig.
Auf einmal hatte Ruben Lust, ihr ins Gesicht zu schlagen, nur um sie aus der Fassung zu bringen. Aber er tat es nicht. Er sprang auf und lief ans andere Ende der Lichtung, wo er einen Stock aufhob und seinen Zorn an einem Baumstumpf ausließ. Er blickte nicht auf, um zu sehen, wie Julie reagierte. Und sie kam ihm nicht nach.
Für sich dachte Ruben, dass Mont St. Michel genau der Ort war, wohin auch er gewollt hatte – denn dort wartete sein Vater auf ihn.
9
ViroflayundUmgebung,Juli 1789
J ulie betrachtete Rubens Rücken mit den hochgezogenen Schultern, dann erhob sie sich ebenfalls. Er würde die Wahrheit mit der Zeit akzeptieren. Beruhigt sah sie, dass Songe ihm folgte, als er zwischen den Bäumen verschwand. Falls er in
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