Prophezeiung
nach Süden. Und die Rede unseres Freundes wird nicht dazu beitragen, die Menschen zu beruhigen, wir müssen eher damit rechnen, dass sich jetzt noch mehr von denen vor dem Elbtunnel in den Stau stellen und versuchen, einen längeren Urlaub anzutreten. Was ich, lebte ich in der Stadt, im Übrigen auch tun würde, und zwar bevor alles endgültig zusammenbricht. Das Wasser schwappt überall aus dem Hafenbecken und den Alsterläufen, die Feuerwehren können nur noch zusehen, wie die Keller volllaufen, und ich bin gespannt, wann die Strom- und Kommunikationsnetze endgültig weiche Knie kriegen. Ich hoffe nur, dass das dann kein Dauerzustand wird.«
»Aber du hast noch trockene Füße?«
Edward seufzte. »Trockene Füße und einen trockenen Keller,randvoll mit Konserven. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Solange die Nachbarn nicht alle herausfinden, was ich im Keller habe, denn einige von denen kriegen langsam Probleme mit der Versorgung.«
»Auf dem Land?«
Edwards kurzes Lachen war nicht so gemeint. »Land ist auch nicht mehr das, was es mal war. Und erst recht nicht die Landbevölkerung. Die Vorräte reichen von einem Samstagseinkauf bis zum nächsten, die Tiefkühltruheninhalte bestenfalls für zwei Wochen länger. Es geht wirklich verblüffend schnell, Mavie. Du weißt, dass mir das immer bewusst war, aber jetzt, da es passiert, bin ich selbst erschrocken. Die Brücken über die Elbe sind wie eine Schlagader, von den Containern im Hafen zu den Märkten hier bei uns. Man arbeitet wohl daran, die Waren stärker am südlichen Elbufer anzulanden, aber die Kapazitäten werden nicht reichen, die gesamte Transportlogistik muss umgestellt werden, und das dauert. Davon abgesehen, können wir seit fünf Meter über Normalnull kein einziges Containerschiff mehr entladen, weil die Kais ab der Höhe dummerweise überschwemmt werden. Das heißt, wir stehen hier vor leer gefegten Regalen, denn Lager gibt es nicht mehr. Kanban, japanisch für Fortgeschrittene: Das ganze System ist auf perfekte Effizienz ausgerichtet – was ökonomisch ist, enorme Kosten für Lagerhaltung erspart und toll funktioniert. Solange es funktioniert. Und das tut es nicht mehr.«
»Wie weit reichen denn deine Vorräte?«
»Ravioli für sechs Monate. Wie gesagt: solange ich nicht mit allen Nachbarn teilen muss.«
Mavie schwieg.
»Keine Sorge«, sagte Edward. »Ich habe gute Drähte zu meinen Biobauern. Die haben sogar noch Eingemachtes, jede Menge, und ich habe mir einiges reservieren lassen.«
»Ich weiß, dass du gut vorbereitet bist. Ich mache mir nur Sorgen wegen deiner nicht so gut vorbereiteten Nachbarn.«
»Peters ist auf meiner Seite, ich habe ihm einen Teil meiner Vorräte versprochen. Und Peters ist Jäger.«
Mavie blies die Backen auf und atmete langsam aus. »Mach mich nicht schwach.«
»Alles ist gut, Tochterherz«, sagte Edward liebevoll. »Mach dirkeine Sorgen. Und auch für dich und deinen Freund sind ein paar Dosen reserviert. Sofern ihr zurück nach Hamburg kommt, was ich euch allerdings nicht raten würde. Der Süden Frankreichs dürfte in naher Zukunft die sicherste Region auf diesem Planeten sein, zumindest bis unsere afrikanischen Brüder und Schwestern aus den Wüsten sich seewärts auf den Weg zu euch machen. Wie man das anstellt, machen ihre nigerianischen Freunde ihnen ja gerade vor.«
»Wer?«
»Die Piraten. Habt ihr das nicht mitbekommen?«
»Ach so, der Frachter.«
»Der Frachter ist die Eastern Star, ein Containerschiff, nur dass weniger Container drauf sind als vielmehr Menschen, nämlich fast 4000. Frankreich, England und Holland waren so klug, abzuwinken, aber wir gehen mal wieder schnurstracks voran und betteln um Schläge. Die Bundesregierung hat grünes Licht gegeben, das Schiff ist auf der Elbe, bei Cuxhaven.«
»Ja, aber das ist doch auch richtig«, sagte sie. »Du kannst die Leute doch nicht verrecken lassen.«
»Nein. Aber man sollte sie vor dem Erreichen der Stadt wenigstens zwingen, ihre Kalaschnikows über Bord zu werfen.«
Mavie sah Philipp auf sich zukommen, mit zwei Gläsern in der Hand und einer kleinen Dame in cremefarbenem Kostüm im Schlepp.
»Ja«, sagte Mavie irritiert. »Ja, sicher. Aber ich denke, wir haben größere Probleme.«
»Allerdings«, sagte Edward. »Nur ruf nicht nach Amnesty, wenn die französische Marine vor deinem Gästezimmerfenster bewaffnete Boat People versenkt. Wir befinden uns spätestens seit heute in einer neuen Epoche, und wir werden uns nicht nur mit
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