Prophezeiung
sie auf die Uhr und dann hinüber zu Sandhorst, der normalerweise, ebenso wie sie selbst, nicht frühstückte, sondern früh zu Mittag aß. Er telefonierte, bemerkte ihren Blick und erwiderte ihr aufforderndes Lächeln nicht so, wie sie erwartet hatte. Er sah sie bloß kurz an, konzentriert seinem Anrufer zuhörend, und wandte den Blick wieder ab.
Er nickte. Hörte zu. Bestätigte, bestätigte nochmals und legte auf. Dann sah er sie wieder an, stand auf und kam zu ihr herüber.
»Kommst du mit?«, fragte sie.
Er atmete ein und wieder aus. »Kleines Problem«, sagte er. »Der Chef will dich sehen.«
»Gleich?«, sagte sie, weiterhin lächelnd. Das war schnell gegangen, selbst für Eiseles pragmatische Verhältnisse.
»Gleich«, sagte Sandhorst. Und blieb stehen.
Mavie stand auf. »Okay«, sagte sie. »Tut mir leid. Gehen wir morgen Mittag wieder zusammen.«
Sandhorst nickte bloß. Aber er lächelte nicht. Und blieb vor ihrem Schreibtisch stehen, während sie auf den Flur zuging und das Großraumbüro verließ.
Sandra erwartete sie, als sie im Obergeschoss aus dem Fahrstuhl stieg. Mavie lächelte, als die Fahrstuhltüren aufglitten, aber Gerrittsens Assistentin erwiderte das Lächeln nicht, und Mavie bemerkte, dass Wachmann Enrique neben ihr stand.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Sandra wies nach rechts. »Bitte«, sagte sie.
Mavie sah sie fragend an, erhielt keine Antwort und setzte sich in Bewegung. Gefolgt von Sandra und Enrique. Beide schwiegen, während sie sie über den langen Korridor nach hinten begleiteten, zu Gerrittsens Büro.
Sandra öffnete die Tür zum Vorzimmer, Mavie folgte, ihrerseits gefolgt von Enrique, vorbei an Agneta Olsen, die hinter ihrem Schreibtisch saß wie verbitterter Beton, also wie immer. Sandra öffnete die Tür zu Gerrittsens Zimmer, steckte den Kopf hinein, sagte »Frau Heller« und gab dann den Weg frei, mit einem angedeuteten Nicken in Mavies Richtung. Sowie einem Blick, als hätte Mavie ihre Katze angefahren.
Die Blicke der drei Männer hinter dem Schreibtisch waren finsterer. Nicht halb bekümmert, halb entrüstet wie der von Sandra, sondern gespickt mit Dolchen.
Mavie schenkte sich das freundliche Lächeln, während die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Gerrittsen, der hinter dem Schreibtisch saß, flankiert von Thilo Beck zur Linken und einem groß gewachsenen Anzugträger zur Rechten, wies mit einer energischen Handbewegung auf den Besuchersessel. »Setzen Sie sich.«
Mavie tat es.
»Wir können wohl davon ausgehen«, sagte der Anzugträger,ohne sich vorzustellen, »dass Sie lesen können. Der Vertrag, den Sie unterschrieben haben, enthält einige Klauseln, die selbst in Fällen, in denen kein nachweislicher Schaden für unser Unternehmen entsteht, bei nicht weisungsgebundenem Verhalten Regresszahlungen in Höhe von zwei Millionen Euro vorsehen. Etwaige Schadenersatzforderungen unsererseits bleiben hiervon unberührt, ebenso Ihre Verpflichtung zu vollständiger Verschwiegenheit auch über das Vertragsende hinaus.«
»Was soll das?«, fragte Mavie Gerrittsen.
Der Professor sah überrascht den Anzugträger an, als könne er nicht glauben, dass er dessen Ausführungen auch noch übersetzen sollte.
»Sie sind fristlos entlassen«, sagte der Anzug. »Ob wir eventuell bestehende berechtigte Forderungen gegen Sie gerichtlich durchsetzen, werden wir nach Rücksprache mit dem Vorstand in den nächsten Tagen entscheiden.«
»Was soll das?«, fragte Mavie erneut und sah wieder Gerrittsen an.
Diesmal antwortete Beck für seinen Boss. »Hören Sie auf«, sagte er, mühsam beherrscht. »Ersparen Sie uns dieses ganze Ich hab doch gar nichts gemacht. Sie waren im System. Mit meinem Passwort, unautorisiert.« Er nickte grimmig. »Ich weiß, sie haben hinter sich aufgeräumt, aber das kann man eben auch zu gründlich machen, zum Beispiel indem man Verlaufszeilen seines Vorgängers versehentlich mitlöscht. Ich kann nur für Sie hoffen, dass Sie lediglich strunzdumm und neugierig waren und nicht auf der Payroll eines unserer Konkurrenten stehen. In dem Fall – also, sofern wir bei Ihnen irgendwelche vertraulichen Daten finden –, verbringen Sie den Rest Ihres Lebens bei Verwandten, die ein Zimmer frei haben.«
»Jetzt ist aber gut«, sagte Mavie und stand auf. »Es reicht. Okay, ich war in Ihrem System. « Sie sah Beck an. »Beziehungsweise an der Oberfläche, also genau dort, wo Sie mich sowieso herumgeführt hatten. Und ich habe mir ein paar Daten angesehen, ja, ohne
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