Prophezeiung
verbracht hatte, dem Irrenhaus. Edward hatte nicht nur Geduld und gute Worte gebraucht, um seine Vision tatsächlich bauen zu dürfen, sondern auch eine Menge Geld. Und einen Architekten, der die richtigen Leute gekannt hatte. Am schwierigsten war es gewesen, den Verordnungshütern zu erklären, dass es sich bei dem Haus überhaupt um eine Immobilie handelte, denn der berechtigte Einwand war gewesen, eine Immobilie zeichne sich vor allem dadurch aus, dass sie immobil war. Und genau das war Edwards Haus nicht.
Es war nicht deshalb rund, weil Edward rund besonders schön gefunden hätte – im Gegenteil, er hatte schon während der Planung gewusst, dass er Probleme mit dem Aufstellen seiner Bücherregale bekommen würde, aber ein eckiges Haus konnte sich nun mal nicht drehen – und genau das hatte Edward gewollt. Funktion zwingt Form. Ziel zwingt Verhalten. Edwards Mantra. Ergebnisorientiertes Denken und Tun.
Jetzt, mitten in der Nacht, stand das Haus still. Die Sonnenkollektoren auf dem schrägen Dach wiesen nach Osten, in Erwartung eines neuen Tages, die Jalousien waren heruntergelassen. Sobald die Sonne sich wieder zeigte, würden die Kollektoren wieder zu sammeln beginnen, den Generator im immobilen Keller antreiben und das Haus auf seine tägliche Reise schicken – immerder Sonne nach, auf einer Kugellagerbahn, die Edwards Architekten schier in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber am Ende hatten die beiden Männer ihr Ziel erreicht: ein Haus, das mit der Sonne wanderte.
Erst einige Jahre nach dem Bau war Edward aufgefallen, dass es gereicht hätte, die Kollektoren selbst beweglich zu gestalten, aber zu dem Zeitpunkt hatte er sich längst an seine runde Behausung gewöhnt, ja, hatte sie von Herzen lieben gelernt, weil sie ihn so gründlich und permanent daran erinnerte, dass alles im Leben Bewegung war, Kreislauf – und garantiert nicht rechteckige Begrenzung.
Er und seine Tochter hatten immer als sonderbare Menschen gegolten, gerade in der Satteldachnachbarschaft, die Edward für seinen kühnen Bau gewählt hatte. Dem Grundstück, 2000 Quadratmeter groß und auf einem Hügel gelegen, hatte er einen Kahlschlag verordnet, außer auf der Nordseite, und die Energie, die die Sonne ihm nicht lieferte, trotzte er der Erde ab, in Form von Wärme. Für Notfälle verfügte er über einen Dieselgenerator im Keller und einen 1000-Liter-Tank im Garten.
Denn Edwards Motiv, dieses sich selbst versorgende Haus zu bauen, war kein vorbildliches gewesen. Nicht die Rettung der Welt vor irgendwelchen Treibhausgasen hatte er als seine Aufgabe begriffen, sondern seine eigene Rettung im Fall der Fälle – den er schon vor zwanzig Jahren in seinen Albträumen hatte kommen sehen, und zwar sozusagen umgehend. Das Ende des Öls. Das Ende des Geldes. Das Ende des Stroms. Das Ende des Wassers (er verfügte sogar über einen Brunnen, allerdings war das Wasser so eisenhaltig, dass er es nicht als Trinkwasser verwenden konnte). Den dritten Weltkrieg. Den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung.
Die Hobbypsychologen in Edwards Bekanntenkreis attestiertem dem Patienten wahlweise Paranoia oder einen eklatanten Mangel an Humor. Aber niemand bestritt, dass er wie in seinem vorherigen Leben als EADS -Manager ganze Arbeit geleistet hatte. Seine Zielsetzung nach dem Tod seiner Frau war klar gewesen – seine Tochter zu beschützen und zu begleiten –, und seine Methode fraglos effektiv – von der Wahl des Wohnortes, des Hauses bis zur Wahl von Schule, Umfeld und Zusatzausbildungenfür die Tochter. Mavie war behütet aufgewachsen und hatte alles Wesentliche gelernt, nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und Eiskern-Analyse, sondern auch Bogenschießen, Fischefangen und giftige von ungiftigen Pflanzen zu unterscheiden. Aber Gelassenheit? Leichtigkeit? Damit hatte Edward nie dienen können, und als sie beides für sich zu entdecken begann, mit sechzehn, siebzehn, war ihre Beziehung auf eine schwere Probe gestellt worden. Er hatte sich schwergetan mit ihrer Emanzipation. Mit ihrem Schweigen ihm gegenüber, damit, dass sie ihre eigenen Entscheidungen traf, ihn nicht mehr um Rat fragte. Schwerer als andere Väter, andere Eltern, denn sie war sein Projekt gewesen. Sein einziges Projekt.
Aber am Ende hatte er es geschafft. Hatte losgelassen, so wie er seine erste Karriere losgelassen hatte, das Projekt als erfolgreich beendet betrachtet und sich ein neues gesucht. Das war 2001 gewesen, im Frühjahr. Damals hatte er begonnen, seine Weggefährten von einst
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