Prophezeiung
einen Blick mit Philipp. Er lud sie mit einer Geste ein, auf dem Barhocker vor dem Tresen Platz zu nehmen.
»Dein Freund Daniel hat zurückgerufen«, sagte Edward. »Eine halbe Stunde nachdem du weg warst. Zu dem Zeitpunkt wusste ich aber schon von deinem Vorgänger beim IICO …«
»Von wem?«
»… außerdem stand dieser BMW ein paar Minuten zu lange auf der Straße vor meinem Haus. Für sich genommen nicht beunruhigend, aber im Zusammenhang mit allem anderen durchaus. Ich habe das Gespräch mit deinem Freund sofort beendet und bin umgezogen, zu Peters, nach nebenan. Daniel habe ich von hier aus zurückgerufen und instruiert, du erreichst ihn jetzt ebenfalls unter der Nummer eines Freundes, im Festnetz. Schreibst du mit?«
Mavie sah sich um. Philipp trat um den Tresen herum, öffnete eine der Schubladen und hielt ihr einen Kugelschreiber und einen Block Post-its hin.
»Danke«, sagte sie, dann schrieb sie die Nummer mit, die Edward ihr diktierte.
»Daniel war in deiner Wohnung«, sagte ihr Vater.
»Ja, das hatten wir so besprochen …«
»Die Tür war nicht abgeschlossen.«
Mavie spürte wieder das unsichtbare Eispaket in ihrem Nacken. Natürlich hatte sie die Tür abgeschlossen, bevor sie sich zum Flughafen hatte fahren lassen. »Der Vermieter hat einen Schlüssel …«, sagte sie, aber es klang nicht besonders überzeugend.
»Das erklärt es hoffentlich«, sagte Edward. »Lass uns keine Debatte beginnen, ob ich zu Recht oder zu Unrecht vorsichtig bin. Dein Vorgänger am IICO hieß Nyquist, richtig?«
»Keine Ahnung«, sagte Mavie. »Ich habe nicht gefragt, so weit bin ich gar nicht gekommen …«
»Ich schicke dir einen Link, sieh es dir selber an. Hat dein Freund einen Account, der nicht auf ihn selbst läuft? Eine Firma?«
Mavie sah ihren »Freund« an, der weiterhin am Ende des Tresens stand und ihr interessiert beim Telefonieren zusah. Sie fragte ihn nach einem alternativen Account, er diktierte ihr eine seiner geschäftlichen E-Mail-Adressen, die seiner Assistentin Lisa Weiß, Mavie gab sie an Edward weiter.
Philipp griff nach seinem iAm, begann zu telefonieren, mit Weiß, wie Mavie vermutete, und holte seinen Laptop vom Couchtisch.
»Ein Unfall«, sagte Edward. »Keine große Meldung, keine Erwähnung seines Arbeitgebers, nur ein paar Zeilen in der Inselgazette, ein Forscher, der tragisch umgekommen ist – übrigens das einzige Unfallopfer des letzten Jahres auf La Palma, sonst hätte ich ihn gar nicht gefunden. Aber La Palma Forscher Unfalltod reicht in Nexis, um den kurzen Nachruf aus dem schwedischen Blatt zu finden, aus der Lokalzeitung seines Heimatortes, wo er beigesetzt worden ist. Ich habe es vom Programm übersetzen lassen, es ist etwas holprig, aber ich hatte keine Zeit zum Redigieren. Das findest du im Anhang – und in dem Artikel wird auch der Arbeitgeber erwähnt, IICO , weil vermutlich Nyquists Witwe wusste, wo er war. Seine Biografie ist im Übrigen nicht besonders interessant. Davon abgesehen, dass er nicht nur Experte für Eiskerne war, sondern auch Programmierer. Außerdem war er offenbar Alkoholiker, denn er ist auf dem Weg vom Roque de Los Muchachos nach Santa Cruz von der Straße abgekommen, mit fast zwei Promille im Blut. Das Foto des Wracks ist nicht sonderlich gut, der Fotograf hatte vermutlich kein Interesse, sich in diese Schlucht abseilen zu lassen. Man kann es ihm nicht verdenken.«
Philipp drehte den Laptop so, dass Mavie den entsprechenden Anhang zu Edwards weitergeleiteter Mail sehen konnte. Sie sah das Bild und nickte. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass Bergungsmannschaften sich die Mühe gemacht hatten, mehr als Nyquists Leiche aus dem verdrehten Klumpen Metall heraufzuholen. Die Natur würde den Rest erledigen müssen, im Lauf der Jahrzehnte.
»Ich denke aber«, sagte Edward, »dass wir Glück im Unglück haben, jedenfalls vorläufig und was dich betrifft. Du warst nicht zu orten, nachdem sie deinen iAm konfisziert hatten, spätestens nach deiner Landung in Hamburg bist du ganz vom Schirm verschwunden. Offenbar wissen die zwar inzwischen, dass du einen Vater hast und wo der wohnt, aber beim Vater bist du nicht. Und der wird seine Jalousien oben lassen, durchgehend, und heute Abend sehr allein seine Mahlzeit einnehmen, fernsehen und nicht einmal telefonieren. Er ist halt ein Einsiedler, und von seinerTochter hat er nichts gehört. Falls denen das nicht reicht und sie doch ins Haus kommen möchten, um mich zu befragen, weißt du ja, dass ich
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