Prophezeiung
der Stein aus ihrem Magen aufstieg und ihr in der Kehle stecken blieb. Aber die Tränen ließen sich nicht aufhalten, und der Stein machte, was er wollte. Am Ende ließ sie beiden freien Lauf und akzeptierte, dass ihr Körper zuckte und leise schluchzte, so lange, bis alle Wege wieder frei waren.
Beim nächsten erschöpften, aber wieder kontrollierten Ausatmen brachte sie einen Laut zustande, ein leises Fuck. Sie wiederholte es, mehrfach hintereinander, mit dem nächsten und jedem weiteren Ausatmen, obwohl es als Mantra wenig taugte. Es klang einfach angemessen, nicht schicksalsergeben, sondern nach Widerstand. Kummer und Selbstmitleid lockten erneut, aber diesmal wies sie beide energisch zurück. Sie brauchte ihren Verstand und ihre Wut, nicht ihre Trauer.
Nach zehn Runden Atmen und provisorischem Mantra war sie wieder halbwegs bei sich. Nicht im Einklang mit dem Universum, sondern auf Konfrontationskurs. Das konnten die nicht machen. Wer auch immer die waren, damit kämen die nicht durch. Sie würde sich ihr Leben zurückholen. Und die würden sie nicht zum Schweigen bringen. Die Welt würde von der drohenden Katastrophe erfahren, und sie würde Helens Mörder nicht irgendwelchen zivilisierten Behörden zuführen, sondern Philipp. Oder wem auch immer, der sich in Philipps Umfeld mit Folter und Mord auskannte.
Als ihr Mantra sie bis an diese Stelle getragen hatte, bremste sie sich. Das war mehr als genug Wut.
Sie nahm das Handy aus ihrer Tasche, baute die Prepaid-Karteein und wählte Eiseles Nummer. Ließ es klingeln. Ins Leere. Keine Mailbox.
Etwas sagte ihr, dass sie sich Sorgen machen sollte. Machen musste. Eisele ließ sich zwar generell Zeit mit Rückrufen, aber normalerweise sprang wenigstens seine Mailbox an. Durchaus denkbar, dass ihm etwas zugestoßen war. Dass die ihn gekriegt hatten. Hatte er versucht, sie zu erreichen? Auf ihrem iAm? Wen hatte er erreicht? Beck, vermutete sie. Aber damit wusste Beck noch lange nicht, wo Eisele sich aufhielt. Und der war doch wohl klug genug, sich keine Blöße zu geben.
Helens Schicksal zum Trotz gelang es Mavie nicht, sich Sorgen zu machen, nicht um ihn. Diesbezüglich fehlte ihr weiterhin jedes Talent. Wo andere sofort Filme fuhren, sobald ein Freund, ein geliebter Mensch nicht pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt am verabredeten Ort erschien oder Anrufe nicht beantwortete, nicht zurückrief, blieb sie normalerweise ungerührt und unbesorgt. War dem geliebten Menschen etwas so Schreckliches passiert, dass er nicht mehr telefonieren konnte? Was denn? Tod, Verstümmelung, Entführung? Man würde sie in Kenntnis setzen. Das Krankenhaus, die Leichenhalle, die Entführer. Und falls sie dann noch helfen konnte, würde sie sich umgehend in Bewegung setzen. Aber was nützte ihr die Sorge vorher?
Eltern, ja. Das verstand sie, das konnte sie sich vorstellen, und die Vorstellung war grauenhaft. Kinder, die nicht von der Schule nach Hause kamen. Das war ein Grund, sich Sorgen zu machen, gewaltige, fürchterliche Sorgen. Aber um Erwachsene? Weil die sich nicht meldeten? Helen, ja, vielleicht, nach zwei, drei Tagen Schweigen. Daniel, vielleicht, denn der war extrem zuverlässig. Edward, vielleicht, nach einer Woche. Aber Eisele? Es passte nicht. Eisele war souverän. Vermittelte einem das Gefühl, dass er sogar ein brennendes Flugzeug würde sicher landen können, ohne dabei ins Schwitzen zu geraten.
Sie machte sich keine Sorgen um Fritz Eisele. Aber sie wünschte sich, er würde sich ein paar mehr Sorgen machen, nämlich um sie. Oder ihre Bitte um Rückruf ernster nehmen. Was er offensichtlich nicht tat. Und falls seine Mailbox ausgeschaltet bliebe, konnte sie ihn auch nicht auf den neusten Stand bringen. Geschweige denn ihn bitten, ihr zu helfen. Und ihn schon gar nicht warnen.
Rotterdam.
Natürlich. Wieso hatte sie das vergessen? Er würde da sein. Darüber hatten sie doch schon vor Wochen gesprochen, als er sie gefragt hatte, ob sie an dem Job am IICO interessiert sei. Er würde in Rotterdam vor Regierungsvertretern, Umweltministern und Journalisten sprechen, die sich wieder einmal zusammenfanden, um Meinungen und Positionen auszutauschen und sich am Ende, wieder einmal, bestenfalls zu einer Absichtserklärung durchrangen, die niemandem half. Seit dem Kopenhagener Gipfel wiederholte sich das Spiel alljährlich, und alljährlich ermahnte Klimakoryphäe Eisele die Versammelten mit eindrucksvollen Reden, endlich Maßnahmen zu ergreifen – mit dürftigem Ergebnis. Denn
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