Psalms of Isaak 01. Sündenfall
auch nicht allzu lange her. Oder vielleicht sah er jemandem ähnlich – jemandem, den er gut kannte. Aber weshalb sollte er Sethbert anlügen, eine ausgeklügelte Geschichte über einen Enkel und eine verstorbene Mutter erfinden?
Ihre Blicke trafen sich, und der Alte hob die Augenbrauen. »Nun, Del? Wirst du dem Aufseher antworten?«
Langsam nickte Neb einmal, dann ein zweites Mal.
»Und du hast den Fall der Stadt Windwir überhaupt nicht gesehen?«
Während er wieder auf den alten Mann blickte, traf Neb die Erinnerung wie ein Stich. Das Feuer, die Blitze, die Asche, die wie Schnee auf die verheerte Landschaft fiel. Der brüllende, heiße Wind, der aus Windwir herausfegte, die Schiffe, die in Flammen standen und im Fluss verbrannten, noch während sie die Leinen lösten, um sich nach Süden treiben zu lassen.
Neb schüttelte den Kopf.
Sethbert blickte finster drein. Er beugte sich zu dem Jungen hinab, seine Stimme klang kalt und hohl. »Ich sollte dich lehren, es mehr mit der Wahrheit zu halten.«
»Genau das habe ich vor, Herr«, sagte der alte Mann mit fester Stimme. »Obwohl ich mir sicher bin, dass er einfach nur verwirrt war. Dies sind für uns alle dunkle Zeiten.«
Neb war nicht sicher, was er als Nächstes zu erwarten hatte, aber ein Späher gab Sethbert ein Zeichen, und der Aufseher bedeutete ihm, näher zu kommen. Sethbert blickte einmal mehr Neb und dann den Alten an.
»Du warst nach Kendrick unterwegs, als meine Späher dich festgenommen haben?«
Der Alte nickte. Neb kannte Kendrick. Es war eine kleine Stadt nicht weit südlich von Windwir. Er hatte ein paarmal verschiedene Besorgungen dort gemacht. »Ich habe gedacht, dass es dort vielleicht Überlebende geben könnte.«
Sethbert nickte. »Ich finde es seltsam, dass du meinen Männern nichts von deinem vermissten Enkel erzählt hast.«
Der Alte wurde blass und stammelte einen Augenblick lang. »Ich bitte Euch um Vergebung, Herr. Ich habe in der Nacht zuvor Kampflärm gehört und war mir nicht sicher, wie viel ich verraten sollte.«
Der Aufseher lächelte. »Dies sind, wie du schon sagtest, dunkle Tage.«
Der Alte nickte.
»Wie heißt du denn?«
»Man nennt mich Petros.« Es war ein verbreiteter Name – der Name des Mannes, der P’Andro Whyms Schuldknecht gewesen war und der dem Gelehrten und Wissenschaftler über die Bestimmungen ihres Vertrages hinaus gedient hatte. In einem der Evangelien wurde er als der Größte unter den Geringsten bezeichnet.
Abermals kniff Sethbert die Augen zusammen. Auch Neb tat es. Selbst der Name schien vertraut.
Es flatterte, und ein grauer Vogel stürzte schwer auf die Lehne von Sethberts Thron hinab.
Ein Vogelpfleger kam keuchend unter den Baldachin gestürmt. »… um Vergebung, Aufseher Sethbert, aber der Vogel hat unser Netz verschmäht.«
Neb sah die Kennzeichnung des Vogels, aber sie war ihm nicht vertraut. Sethbert scheuchte den Vogelpfleger beiseite. Stattdessen ergriff der Aufseher den Vogel selbst, zog seinen Nachrichtenköcher auf und entrollte das kleine Schriftstück. Während er es las, wurde sein Gesicht rot, und seine Augen verengten sich.
Er sah wieder zu ihnen auf. »Ich fürchte, ich muss mich um dringendere Angelegenheiten kümmern.« Er hielt inne. »Ihr seid frei zu gehen, aber nicht weiter als nach Kendrick. Es könnte sein, dass ich noch Fragen an euch habe.«
Aber Neb war ziemlich sicher, dass es nicht so kommen würde. Sethbert hatte an ihm nur ein Interesse gehabt, weil er die Geschichte von Windwirs Fall hören wollte. Zweifellos, damit er sich in seinem Werk aalen konnte.
Einen Augenblick lang zog er in Erwägung, den Mund zu öffnen, um irgendwie gegen diese Wendung der Ereignisse zu protestieren. Bestimmt hatte dieser Petros seine Gründe für die Lügen. Neb hätte ihn für verrückt halten können, aber er hatte die Härte in den strahlend blauen Augen bemerkt und konnte sehen, dass der Alte mit Sethbert spielte, als wäre er eine Sumpfflöte. Diese Tatsache und das vertraute Gesicht mit dem vertrauten Namen reichten aus, um Neb davon zu überzeugen, dass er ein andermal würde herausfinden müssen, wie er Sethbert töten konnte.
Als sie unter dem Baldachin hervortraten, spürte er, wie sich der Druck auf seiner Schulter verlagerte, und ihm wurde klar, dass der alte Mann die ganze Zeit über gesprochen hatte. Seine Finger, die sich ganz leicht bewegten, hatten eine Botschaft auf seine Schulter getippt. Natürlich wusste Neb nicht, was sie bedeutete. Er hatte erst in
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