Psychologische Homöopathie
überraschenden Idee überwältigt werden (besonders wenn sie entweder sehr schön oder sehr bedrohlich ist) oder auch von einer intensiven, aber vorübergehenden Emotion. In solchen Momenten hat er keine Vergangenheit und keine eigene Identität. Er wird eins mit der Emotion oder der Idee und verliert jedes Gefühl von Perspektive. Vielleicht dauert es nur eine Minute, bis er wieder zur Besinnung kommt, vielleicht aber auch erheblich länger.
Wenn Phosphor sich beispielsweise verliebt, befindet er sich in einem permanenten Rauschzustand, der tendenziell jede konkrete Wahrnehmung auflöst oder alles in ein rosarotes, schimmerndes Licht taucht, sogar die Steuererklärung und den Pickel auf der Nase seiner Geliebten. Ganz ähnlich kann die Bedrohung seiner persönlichen Sicherheit oder eines geliebten Menschen ihn in einen generellen Angstzustand versetzen, in dem ihm sogar ein Kätzchen gefährlich vorkommt. Solche unmittelbaren Überschwemmungen des schwachen Identitätsgefühls von Phosphor dauern im allgemeinen nicht lange. Ihnen folgt entweder eine Phase relativer Stabilität, in der er vernünftig denken kann, oder neue Ereignisse lösen einen anderen, ähnlich intensiven Eindruck aus. Kein Wunder also, daß Phosphor von Zeit zu Zeit unter geistiger und emotionaler Erschöpfung leidet (Kent: »geistige Erschöpfung«) undin eine Art apathischen Zombiezustand gerät, in dem er entweder gar nichts tut oder wie im Traum auf »Autopilot« handelt, bis er sich wieder erholt und gesammelt hat (Kent: »wie im Traum«).
Eine langfristige Folge der Beeindruckbarkeit von Phosphor besteht darin, daß er dazu neigt, sich seine Identität von den Menschen in seiner Umgebung auszuleihen. Wir alle wachsen mit einem beträchtlichen Maß an innerer Konditionierung auf und neigen dazu, sowohl intellektuell als auch sozial viele Verhaltensmuster von unseren Eltern zu übernehmen, aber Phosphor ist leichter formbar als die meisten Menschen. So akzeptiert der Phosphor-Jugendliche beispielsweise die Vorstellungen und Ansichten seiner Eltern auch dann noch fraglos, wenn seinen Altersgenossen bei ihren eigenen Eltern schon längst die Schwächen und Ungereimtheiten aufgefallen sind. Ein gutes Beispiel ist das Phosphor-Kind, das in einer religiösen Familie aufwächst. Ganz gleich um welche Art von Religion es sich handelt, wird Phosphor ihr vertrauensvoll folgen und dabei weniger Fragen stellen als jeder andere Konstitutionstyp (außer vielleicht Pulsatilla).
Auf ähnliche Weise neigt das Phosphor-Kind auch dazu, politische und moralische Ansichten zu entwickeln, die exakt denen der Eltern entsprechen. Wenn die Eltern moralisch sind, wird auch er es sein. Sind die Eltern Kriminelle, wird er kriminelle Handlungen für akzeptabel halten, und da seine Eltern, wie die meisten Eltern, denken und darauf bestehen, daß sie in den meisten Fällen recht haben, denkt das heranwachsende Phosphor-Kind, daß seine Eltern immer recht haben. Die furchtbare Erkenntnis, daß auch die eigenen Eltern fehlbar sind, dämmert dem durchschnittlichen Phosphor erst viel später als den meisten anderen Typen, und diese Erkenntnis kann so beängstigend und beunruhigend sein, daß Phosphor sie nicht voll akzeptiert, denn er neigt dazu, an vertrauten Ansichten so festzuhalten, als würde er sich im Sturm an einen Baum Klammern. Das heißt nicht, daß alle Phosphor-Menschen rigide und engstirnig sind. Wenn ihre Eltern flexibel und geistig offen waren, dann werden sie es auch sein. Waren die Eltern jedoch starr und streng, dann kommt Phosphor in Verlegenheit. Er wird viele der strengen Ansichten seiner Eltern übernehmen, aber er wird sich damit unwohl fühlen, weil er von Natur aus ein warmer, spontaner Typ ist, und seine menschliche Wärme wird ständig mit der von ihm übernommenen Strenge im Widerstreit liegen. Am Ende wird er wahrscheinlich viele der rigiden Vorstellungen und Verhaltensweisen seiner Eltern (beispielsweise die Weigerung, Geld zu leihen oder zu verleihen) lockern, während er einige immer noch in der Theorie und andere in der Praxis beibehält.
Ein ausgezeichnetes Porträt eines Phosphor-Mannes, der hin und her gerissen ist zwischen seiner rigiden moralischen Erziehung und seinem natürlichen, spontanen Selbst, findet man in der Gestalt des Oscar Hopkins in Peter Careys tragikomischem Roman Oscar und Lucinda. Oskar ist der Sohn eines besonders rigiden christlichen Predigers und wächst im 19. Jahrhundert in Cornwall auf. Der Vater hatte den
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