Psychologische Homöopathie
jungen Oscar einmal dabei erwischt, wie er einen Christmas-Pudding probierte, eine so dekadente Köstlichkeit, daß sie in den Augen des Predigers eine absolute Scheußlichkeit war. Er versetzte seinem Sohn eine gewaltige Ohrfeige und zwang ihn auszuspucken, was er im Mund hatte. Oscar wuchs im puritanischen Geist seines Vaters auf und glaubte, er müsse auf jedes Vergnügen verzichten, um die Billigung seines himmlischen Vaters zu erlangen. Er führte das Leben eines Asketen in Oxford, wo er Theologie studierte, um Priester zu werden, und ganz für sich blieb, weil er die weltlichen Interessen der anderen Studenten nicht teilen konnte.
Trotz seiner einwandfreien Moral wurde Oscar von seinem Vater abgelehnt, weil er dessen Glaubensgemeinschaft der Plymouth-Brüder verlassen und sich der anglikanischen Kirche angeschlossen hatte. Oscar hatte das im zarten Alter von elf Jahren getan, weil er nicht glauben konnte, daß Gott an der ernsten Strenge seines Vaters Gefallen fände. In typischer Phosphor-Manier verließ sich der junge Oscar bei seiner Suche nach dem richtigen Glauben auf ein Zeichen von oben. Dazu warf er einen Stein über seine Schulter auf ein Gitter aus Vierecken in Form eines Kreuzes. Jedes Viereck repräsentierte ein anderes christliches Bekenntnis, und der Stein fiel mehrfach in das anglikanische Quadrat. Nun überzeugt davon, daß sein Vater »im Irrtum« war, litt Oscar unter schrecklichen Visionen der Hölle, die seinen Vater erwartete, und verließ sein Heim, um Zuflucht im Haus eines anglikanischen Priesters zu suchen, eines Mannes, der immer mitleiderregend gewirkt hatte, sogar auf Oscar. Obwohl er die Religion seines Vaters wegen ihre Strenge zurückwies, verlor Oscar nie seine puritanischen Ansichten. Anders als sein Sulfur-Vater versuchte er jedoch nie, diese Ansichten anderen Menschen aufzuzwingen, die er immer im bestmöglichen Licht sah.
In Oxford hatte Oscar kein Geld, um seine Studiengebühren zu bezahlen. Er wartete mehrere Wochen, ob sich vielleicht von selbst eine Lösung ergeben würde (Phosphor hofft oft auf ein Wunder, wenn Schwierigkeiten auftauchen), und schließlich kam die Lösung auch in Gestalt eines Kollegen, der ihn zum Pferderennen mitnahm. Oscar wußte nichts über Wetten, außer daß sie als unmoralisch galten. Ungeachtet dessen war er plötzlich überzeugt, daßGott ihn zum Rennen geführt hatte, um ihm zu zeigen, wie er während des Priesterstudiums seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Er spürte eine überwältigende Gewißheit, daß ein bestimmtes Pferd gewinnen würde, auf das er sein ganzes Geld setzte, und seine Intuition wurde reich belohnt. Das ist ein gutes Beispiel für das opportunistische Denken von Phosphor. Oscar bewahrte all seine hehren Prinzipien, überlegte sich jedoch, daß es auf den Zweck des Glücksspiels ankomme und daß Wetten als solches nicht unmoralisch sei. Da er immer noch sehr fromm war, gab er seine Gewinne nur für seine Unterkunft und bescheidene Verpflegung sowie seine Studiengebühren aus und spendete den Rest für wohltätige Zwecke. Sein Handeln ist zwar extrem, aber doch ein Ausdruck des großen Vertrauens in das Leben oder in Gott, das viele Phosphor-Menschen haben, die mit ihrem Geld ebenso sorglos wie selbstlos umgehen, weil sie mehr mit emotionalen oder spirituellen Zielen beschäftigt sind oder einfach den Dingen ihren Lauf lassen und darauf vertrauen, daß Gott für den nächsten Tag sorgen wird.
Der Romanautor hat die Gestalt des Oscar Hopkins so wirklichkeitsnah und differenziert gezeichnet, daß sie Hunderte von typischen Phosphor-Eigentümlichkeiten zeigt. Obwohl Oscar ursprünglich nur wettet, um seine Rechnungen bezahlen zu können, verfällt er dem damit verbundenen Nervenkitzel, und das Spiel wird schließlich sein Ruin. Viele Phosphor-Menschen sind suchtgefährdet, nicht weil sie sich von ihrem Schmerz ablenken wollen wie Natrium-Süchtige (obwohl das bei jedem Süchtigen eine Rolle spielt), sondern weil sie der Ekstase nicht widerstehen können, die mit ihrer Sucht verbunden ist. Oscar ist äußerst freundlich und liebenswürdig und auch ziemlich furchtsam. Er ist einer der mehr introvertierten Phosphor-Menschen, in denen die Erziehung viele Ängste ausgelöst hat. Phosphor kann entweder ausgelassen und extrovertiert wirken oder furchtsam und still, je nachdem wieviel Angst er als Kind erlebt hat und wie groß seine momentane Angst ist. Selbst der stillste Phosphor wie Oscar hat gelegentliche
Weitere Kostenlose Bücher