Psychopath
aneinander zu hängen, und Sie sind ein Held.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf das Rednerpult vorn im Saal zu.
3
Der Hörsaal war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Ellison erklärte Jonah, dass das Canaan Memorial eine der wenigen medizinischen Einrichtungen in Vermont war, wo Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen die Fortbildungsbescheinigungen erwerben konnten, die sie brauchten, um ihre Zulassung zu behalten. Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater aus dem ganzen Bundesstaat kamen zu diesen wöchentlichen Fallbesprechungen.
Jonah hörte von einem Platz in der ersten Reihe aus zu, während Paul Plotnik begann, die psychiatrische Krankengeschichte des neunjährigen Benjamin Herlihey vorzustellen. Nach der Falldarstellung würde man Herlihey hereinbringen, damit er befragt werden konnte.
»Benjamin Herlihey ist ein neunjähriger Weißer, der am dritten Januar dieses Jahres in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde«, las Plotnik von seinem Manuskript ab. »Er ist Einzelkind. Sein Vater arbeitet auf einem der örtlichen Holzplätze, und seine Mutter arbeitet von zu Hause aus als Tagesmutter. Nach Aussage seiner Eltern zeigte Benjamin über fast drei Monate vor seiner Einweisung zunehmend Symptome einer schweren Depression, einschließlich eines Appetitmangels, der zu einem Gewichtsverlust von rund acht Kilo führte, unzureichendem Schlaf, aus dem er zumeist inden frühen Morgenstunden erwacht, Verlust des Interesses an allen Aktivitäten, die ihm zuvor Vergnügen bereitet hatten, Energieverlust und periodisch auftretender Weinerlichkeit.« Plotnik machte eine Pause, starrte aber weiter auf seine Notizen. Er steckte sich seinen Zeigefinger ins Ohr und bohrte, als wolle er Ohrenschmalz entfernen.
Ellison beugte sich zu Jonah. »Eine nervöse Angewohnheit«, flüsterte er.
Sehr nervös, dachte Jonah bei sich.
»Benjamin wurde ambulant von einem Psychiater behandelt, der ihm Zoloft in einer Dosierung von fünfzig Milligramm verschrieb, ohne dass eine Besserung der Symptome eintrat«, fuhr Plotnik fort. »Die Dosis wurde langsam auf einhundert Milligramm erhöht, dann auf zweihundert. Es konnte keine lindernde Wirkung festgestellt werden. Die Symptome des Patienten verschlimmerten sich weiter. Desipramin in einer Dosierung von fünfzig Milligramm jeden Morgen wurde hinzugegeben. Doch trotz dieser Medikamentenkombination verlor der Patient kontinuierlich an Energie, und sein Gewicht fiel ebenfalls weiter. Er ging nicht mehr zur Schule und wurde zu Hause immer verschlossener. Um Mitte Dezember herum war Benjamin praktisch stumm, beantwortete Fragen mit Ja und Nein, ließ sich aber nicht weiter aus. Er begann, Augenkontakt zu vermeiden. Sein Psychiater kam, meiner Meinung nach zu Recht, zu dem Schluss, dass Benjamin nicht unter endogener Depression litt, sondern unter einem ersten psychotischen Schub, der den frühen – kindheitlichen – Ausbruch von paranoider Schizophrenie ankündigt.«
Geflüster im Publikum über die schlechte Prognose bei extrem früh ausbrechender Schizophrenie. Endogene Depression war auch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, reagierte aber bei weitem besser auf Behandlung.
Plotnik bohrte abermals mit dem Zeigefinger im Ohr, dannblätterte er mit demselben Finger auf die nächste Seite seiner Falldarstellung um. »Seit seiner Einweisung am dritten Januar hat der Patient fast völliges Schweigen gewahrt. Er scheint gelegentlich geistesabwesend, vermutlich aufgrund von Halluzinationen. Er blickt an die Decke, als würde er Stimmen hören oder eine Vision haben.
Benjamin hat seit Beginn seiner Erkrankung keine normale Nahrung mehr zu sich genommen, sein anorexisches Verhalten hat sich auf der Station nur verschlimmert und stellt inzwischen eine ernstliche Gefahr für seinen Stoffwechsel dar. Wir verabreichen ihm mittels Tropf die nötigen Nährstoffe, doch wir werden binnen der nächsten Tage einen Nahrungsschlauch einführen müssen, um sein Überleben zu sichern. Seine Eltern haben dem Eingriff bereits zugestimmt. Direkt anschließend werden wir mit der Elektrokonvulsionstherapie beginnen in der Hoffnung, positiv auf Benjamins Psychose einwirken zu können.
Psychodynamisch scheint relevant, dass Benjamins Vater die Familie vor drei Jahren ohne Vorwarnung verlassen hat, beinahe auf den Tag genau an dem Datum, an dem die Symptome seines Sohns erstmals auftraten. Mr. Herlihey blieb vier Monate lang fort, verweigerte jeglichen Kontakt mit
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