Psychopath
was?«, fragte ein anderer Mann in der Mitte des Saals.
»Benjamins völliges Schweigen war für mich der erste Hinweis darauf, was ihm fehlte«, erklärte Jonah. »Wenn er ein einziges Wort von sich gegeben hätte, wäre ich versucht gewesen, es psychologisch zu analysieren. Wenn er geweint hätte, hätte ich mir vermutlich die Zeit genommen, ihn dazu zu bringen, mir von seiner Traurigkeit zu erzählen oder von den anderenSymptomen der Depression, unter denen er möglicherweise leidet.« Er machte eine kurze Pause. »Benjamin hat mir geholfen, klar zu sehen. Der Schlüssel war, schweigend mit ihm zusammenzusitzen und genau zu beobachten, ohne sich von Worten oder Emotionen ablenken zu lassen.«
Paul Plotnik räusperte sich und hob seine Hand.
Jonah nickte ihm zu.
»Bevor wir einen Neurochirurgen rufen, sollten wir da nicht erst ein Magnetresonanztomogramm machen lassen?«, fragte er. »Können Sie absolut sicher sein, dass es nicht normal ausfallen wird?«
»Ich kann nicht absolut sicher sein«, antwortete Jonah, »aber es würde mich stark wundern, wenn es normal wäre.«
Plotnik wandte den Blick ab. Seine Schultern sackten noch mehr herunter.
Jonah wollte ihn rehabilitieren. »Dr. Plotniks psychologische Theorie erscheint mir übrigens plausibel«, erklärte er dem Publikum. »Benjamins Erkrankung könnte durchaus von dem unvorhergesehenen Weggang des Vaters von der Familie ausgelöst worden sein.«
Plotnik sah ihn an. »Sagten Sie nicht gerade, er habe einen Gehirntumor?«
»Glioblastome ruhen bis zu sechs Jahre, bevor sie sich ausbreiten«, erklärte Jonah ihm. »Das bringt uns wieder zu der Zeit, als Mr. Herlihey seine Familie verlassen hat. Lassen Sie uns eins nicht vergessen: Das limbische System ist das emotionale Kontrollzentrum des Gehirns. Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob der Verlust des Vaters nicht eine bösartige Geschwulst in diesem Bereich hervorrufen kann. Warum sollte das unwahrscheinlicher sein als die Tatsache, dass Stress das Herz schädigt?«
Plotnik starrte Jonah an.
»Und wer vermag zu sagen«, fuhr Jonah fort und richteteseinen Blick wieder auf das gesamte Publikum, »ob es nicht, wenn Mr. Herlihey die volle Wahrheit über jene Monate seiner Abwesenheit erzählt hätte, irgendwie Benjamins Immunsystem hätte stärken können, die Zahl seiner Antikörper hätte erhöhen können, vielleicht sogar dazu hätte führen können, dass sich der Tumor zurückbildet? Die Wahrheit hat die Kraft zu heilen.«
Jonah bemerkte, dass Craig Ellison ihn fast ehrfürchtig anschaute. Er entschied, nicht auf halbem Wege anzuhalten und die volle Wahrheit darüber ans Licht zu bringen, weshalb Paul Plotnik mit seiner Diagnose über Benjamin so danebengelegen hatte. Er sah wieder zu ihm. »Ebenso interessant ist die Tatsache, Paul, dass Sie aus eigener Erfahrung etwas von dem nachempfinden können, was Benjamin in neurologischer Hinsicht durchlitten hat.«
Plotnik sah Jonah fragend an. »Reden Sie von meinem Schlaganfall?«
»Ja«, sagte Jonah. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihre Erfahrung benutzen würde, um eine Lehre für uns alle daraus zu ziehen?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Plotnik, und all seine Verärgerung war verpufft.
»Sie hatten nur einen leichten Schlaganfall«, sagte Jonah. »Aber nach den speziellen Gesichtsmuskeln zu urteilen, die betroffen sind, und der Überkompensation der Muskeln Ihrer rechten Körperhälfte – Ihr kräftiger Handschlag –, ist das Gehirn wahrscheinlich in einem Bereich des Motorkortex geschädigt, der an jenen grenzt, in dem Stimmungen und Sprachvermögen gesteuert werden.«
»Stimmt genau«, bestätigte Plotnik ungläubig.
»Sodass Sie sich nach Ihrem Schlaganfall nicht nur körperlich geschwächt fühlten, sondern auch Probleme bei der Wortfindung hatten – und Probleme mit Depressionen.«
»Ein bisschen.«
»Und beides hat sich weitestgehend gegeben, als das betroffene Hirngewebe abgeheilt ist.«
»Es hat sich völlig gegeben«, versicherte Plotnik.
Jonah sah keinen Sinn darin, Plotnik darauf hinzuweisen, dass sein Sprachverhalten und sein Auftreten keineswegs gänzlich zum Normalzustand zurückgekehrt waren – und dies niemals tun würden. Doch Plotniks Weigerung, die fortgesetzten Auswirkungen des Schlaganfalls zu akzeptieren, bestärkte Jonahs Verdacht. »Möglicherweise hat die Tatsache, dass Sie nicht an Ihre eigene Hirnverletzung denken wollen, es Ihnen bedeutend schwerer gemacht hat, Benjamins Problem zu erkennen.
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