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Psychopath

Psychopath

Titel: Psychopath Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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anfassen«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Hab keine Angst.« Er streckte seine Hände aus, sodass Benjamin sie sehen konnte.
    Im Saal wurde es schlagartig mucksmäuschenstill. Psychiater fassen nicht an. Sie wahren strikte Grenzen. Sie heilen von der anderen Seite des Zimmers aus.
    »Was zum Henker wird denn das?«, hörte Jonah Plotnik murmeln.
    Jonah schaute zu Craig Ellison und sah den zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht. Doch er sah auch, dass sich Michelle Jenkins wie gebannt in ihrem Sitz vorbeugte.
    Er konzentrierte sich wieder auf Benjamin. »Hab keine Angst«, sagte er. Er schaute dem Jungen eindringlich in die Augen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem linken Arm des Knaben zu, der reglos auf seinem Schenkel ruhte. Er hob ihn gute zwanzig Zentimeter hoch, dann ließ er ihn los und schaute zu, wie er totem Ballast gleich herunterfiel. Dann hob er den rechten Arm hoch und ließ ihn fallen. Der Arm senkte sich langsam wieder hinab.
    Wie ein Mann, der die Glieder einer lebensgroßen Animationsfigur bewegt, zog und schob Jonah Benjamins Arme und Beine hierhin und dorthin. Er fuhr mit seiner Daumenspitze über die Sohlen von Benjamins Füßen und beobachtete, wie sich die Zehen in Reaktion auf den spezifischen Druck krümmten. Er beugte sich ganz dicht heran, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von Benjamins Gesicht entfernt war. Er sah nach links und nach rechts, nach oben und nachunten und beobachtete, wann Benjamins Augen der Bewegung folgten, wie es die Augenreflexe diktierten, und wann sie es nicht taten.
    Er lehnte sich wieder etwas zurück. »Danke«, sagte er zu Benjamin. »Ich glaube, ich verstehe das Problem jetzt.« Er stand auf und gab dem Mann, der Benjamin in den Saal geschoben hatte, ein Zeichen. »Fertig«, verkündete er.
    Er trat an das Rednerpult und wartete, bis Benjamin das Auditorium verlassen hatte. Dann ließ er seinen Blick über das Publikum schweifen und atmete tief durch. »Das ist ein ungewöhnlicher Fall«, sagte er.
    »Es ist auch eine ungewöhnliche Fallbesprechung«, bemerkte Paul Plotnik in einem Bühnenflüstern.
    Nervöses Gelächter verbreitete sich im Saal.
    Jonah sah Plotnik an, der ein breites Grinsen zur Schau trug. »Glioblastom-Gehirntumore sind in dieser Altersgruppe extrem selten«, sagte er. »In diesem Fall«, fuhr er fort und wandte sich nun an das gesamte Publikum, »ahmt der Tumor aufgrund seiner Position im Gehirn perfekt eine Geisteskrankheit nach. Sein Ausgangspunkt liegt direkt neben dem limbischen System, in der rechten Hirnhälfte, sodass die bösartigen Zellen zuerst in den Mandelkernkomplex eingedrungen sind und dadurch Stimmungsschwankungen und Veränderungen in den Muskelfunktionen hervorgerufen haben. Dann haben sie sich über die Basalganglien langsam weiter nach innen ausgebreitet in die Querfurche der Großhirnrinde, wo bekanntermaßen das primäre Sprachzentrum angesiedelt ist.« Er machte eine kurze Pause und sah abermals Paul Plotnik an. »Dr. Plotnik«, sagte er. »Haben Sie eine Computertomographie veranlasst?«
    »Selbstverständlich«, erklärte Plotnik entrüstet.
    »Ich habe schon aus Ihrer gründlichen Falldarstellung geschlossen, dass Sie das getan haben würden«, lenkte Jonah ein.
    Er wollte Plotnik davor bewahren, als Dummkopf dazustehen, und sich davor bewahren, sich einen Feind zu machen. Er sah wieder zum Publikum. »Das Problem ist, dass acht Prozent aller Glioblastom-Läsionen nur bei einer Magnetresonanztomographie erkennbar sind. Und gemeinhin veranlassen wir keine Magnetresonanztomographien für Patienten, deren Symptome sich augenscheinlich durch Depression erklären lassen – oder durch Schizophrenie.« Er machte abermals eine Pause. »Benjamin braucht keine Elektrokonvulsionstherapie. Er braucht eine Operation – und zwar umgehend. Glioblastome sind aggressiv, doch behandelbar, wenn sie früh genug entdeckt werden.«
    »Aber was ist mit der Psychose?«, fragte Michelle Jenkins. »Wie erklären wir die?«
    »Ich glaube nicht, dass Benjamin Visionen hat«, sagte Jonah. »Seine Augen wandern nach oben links, weil die Nerven der Augenmuskeln, die das Auge zentrieren, geschwächt sind. Der Tumor zerstört sie.«
    Eine junge Frau in einer der hintersten Sitzreihen meldete sich.
    Jonah nickte ihr zu.
    »Wie sind Sie darauf gekommen?«, wollte sie wissen.
    »Indem ich Benjamin zugehört habe«, antwortete Jonah.
    »Aber er hat kein Wort gesagt«, entgegnete die junge Frau.
    »Genau«, sagte Jonah.
    »Genau

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