Pünktchen und Anton
gemeint, er müsse einen Floh haben, vielleicht sogar zwei. Und da ist der Schmitz aufgesprungen und hat gerufen, neben Jungens, die Flöhe hätten, dürfe er nicht sitzen. Seine Eltern erlaubten das nicht.
Wir haben uns schiefgelacht.« Anton lachte, wie ein Wiederkäuer, gleich noch mal. Dann fragte er: »Magst du heute keinen Spaß?«
»Erzähl nur ruhig weiter«, sagte sie.
Er legte den Kopf auf die Sofalehne und streckte die Beine aus. »Herr Bremser war in der letzten Stunde sehr freundlich zu mir, und ich soll ihn mal besuchen, wenn ich Zeit habe.« Plötzlich zuckte er zusammen: »Ich Dussel!« rief er. »Ich muß doch kochen!« Die Mutter hielt ihn zurück und zeigte auf den Tisch. Da standen schon Teller und eine große dampfende Schüssel. »Linsen mit Würstchen?« fragte er. Sie nickte, dann setzten sie sich und aßen. Anton langte tüchtig zu. Als er den Teller kahlgegessen hatte, gab ihm die Mutter mehr. Er nickte ihr begeistert zu. Dabei sah er, daß ihre Portion unberührt war. Nun schmeckte es ihm auch nicht mehr. Er stocherte traurig in der Linsensuppe und fischte Wurststückchen. Die Schweigsamkeit senkte sich wie ein drohender Nebel aufs Zimmer.
Schließlich hielt er das nicht mehr aus. »Muttchen, habe ich nicht gefolgt? Manchmal weiß man das selber n i c h t . . . Oder ist es wegen des Geldes? Die Würstchen waren eigentlich gar nicht nötig.« Er legte seine Hand zärtlich auf ihre.
Doch die Mutter trug rasch das Geschirr in die Küche. Dann kam sie zurück und sagte: »Fang mit den Schularbeiten an. Ich komme gleich wieder.« Er saß auf seinem Stuhl und schüttelte den Kopf. Was hatte er denn angestellt? Draußen schlug die Korridortür. Er öffnete das Fenster, setzte sich aufs Fensterbrett und beugte sich weit hinaus. Es dauerte ziemlich lange, bis die Mutter unten aus dem Haus trat. Sie machte kleine Schritte. Das Laufen strengte sie an. Sie ging die Artilleriestraße hinunter, dann bog sie um die Ecke.
Er setzte sich trübselig an den Tisch, holte den Ranzen und die Tinte und begann, am Federhalter zu kauen.
Endlich kam die Mutter wieder. Sie hatte einen kleinen Blumenstrauß besorgt, holte Wasser, stellte die Blumen in die blaugetupfte Vase, zupfte an den Blättern, schloß das Fenster, blieb davor stehen, wandte Anton den Rücken und schwieg.
»Schöne Blumen«, sagte er, hielt die Hände gefaltet und konnte kaum atmen. »Himmelsschlüssel, wie?«
Die Mutter stand im Zimmer, als sei sie fremd. Sie sah zum Fenster hinaus und zuckte mit den Schultern.
Am liebsten wäre er zu ihr hingelaufen. Aber er stand nur halb vom Stuhl auf und bat: »Sag doch ein Wort!«
Seine Stimme klang heiser, und wahrscheinlich hatte sie ihn gar nicht gehört.
Und dann fragte sie, ohne sich umzuwenden: »Den wievielten haben wir heute?«
Er wunderte sich zwar, lief aber, um sie nicht noch mehr zu ärgern, zum Wandkalender hinüber und las laut: »Den 9. April.«
»Den 9. April«, wiederholte sie und preßte ihr Taschentuch vor den Mund.
Und plötzlich wußte er, was geschehen war! Die Mutter hatte heute Geburtstag. Und er hatte ihn vergessen!
Er fiel auf seinen Stuhl zurück und zitterte. Er schloß die Augen und wünschte nichts sehnlicher, als auf der Stelle tot zu s e i n . . . Deswegen war sie also heute aufgestanden. Und deswegen hatte sie Linsen mit Würstchen gekocht. Selber hatte sie sich einen Blumenstrauß kaufen müssen! Nun stand sie am Fenster und war von aller Welt verlassen. Und er durfte nicht einmal hingehen und sie streicheln. Denn das konnte sie ihm nicht verzeihen. Wenn er wenigstens gewußt hätte, wie man ganz schnell krank wird. Dann wäre sie natürlich an sein Bett gekommen und wieder gut gewesen.
Er stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und fragte bittend: »Hast du gerufen, Mama?«
Aber sie lehnte still und unbeweglich am Fenster.
Da ging er hinaus, hinüber in die Küche, setzte sich neben den Herd und wartete, daß er weinte. Aber es kamen keine Tränen. Nur manchmal schüttelte es ihn, als hielte ihn wer am Kragen.
Dann suchte er den Tuschkasten hervor und nahm eine Mark heraus. Das hatte ja nun alles keinen Sinn mehr. Er steckte die Mark in die Tasche. Ob er vielleicht doch noch hinunterlief und etwas holte? Er konnte es ja nachher durch den Briefkasten werfen und fortlaufen. Und nie mehr wiederkommen! Schokolade ließ sich leicht durch den Briefkastenspalt schieben und eine Gratulationskarte dazu. »Von Deinem tiefunglücklichen Sohn
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