Puerta Oscura - 01 - Totenreise
angesichts der ersten Begegnung mit Menschen aus einer fremden Zeit.
»Mach dir keine Sorgen«, ermunterte ihn Beatrice und nahm ein paar Kleidungsstücke aus einem Schrank, den sie gerade entdeckt hatte. »Zieh dir das über, und du fällst gar nicht auf.«
Dann entfernten sie den Balken vor der Tür. Trotzdem wollte sie nicht aufgehen.
»Ist noch irgendwo ein Haken oder Riegel?«, fragte Pascal verwundert.
Beatrice nahm die Tür genau in Augenschein.
»Nein«, antwortete sie. »Die Tür wird nur durch diesen Balken gesichert.«
»Warum geht sie dann nicht auf? Klemmt sie vielleicht?«
»Ich weiß nicht.« Beatrice überlegte. »Wenn ich mich konzentriere, kann ich mich unsichtbar machen, körperlos, ohne Materie, etwas, das nur in der Welt der Lebenden geht. Es müsste auch in dieser Epoche funktionieren. Ich werde es versuchen, um nach draußen zu kommen. Dann kann ich feststellen, woran es liegt, dass die Tür verschlossen bleibt.«
Beatrice schloss die Augen und nach und nach verblasste ihre Gestalt. Pascal sah interessiert, wenn auch gelassen zu; so leicht war er nicht mehr aus der Fassung zu bringen.
Es war, als wäre ein grauer Vorhang über Beatrice gefallen, der die Farben verlöschen ließ. Schließlich war sie nur noch ein blasser Schatten.
»Ich bin gleich zurück«, flüsterte sie.
***
Ihr Körper war gefangen, doch ihr Kopf war es nicht. Michelle stöhnte – könnte sie nur den Schmerz ignorieren, den ihr die Fesseln, der Knebel und die verkrampfte Haltung auf dem holpernden Karren verursachten. Sie war bewegungsunfähig, doch in Gedanken war sie noch immer frei, daran musste sie sich klammern. Es gab hier kein Licht? Dann würde sie es sich eben vorstellen: ein helles, strahlendes Licht. Und warm. Sie genoss das Bild mit geschlossenen Augen und stahl sich für einen Moment aus ihrer schlimmen Lage.
Warum auch sollte sie sich diese Welt hier anschauen? Gab es irgendetwas, wofür sie die Augen öffnen sollte, wo doch ringsherum nur Dunkelheit herrschte? Nicht einmal die Gesellschaft des anderen Gefangenen, zu ihr auf den Karren gekommen vor ein paar Tagen, war ein Trost in dieser düsteren Umgebung.
Michelle war in Fesseln, aber in Gedanken konnte sie entfliehen. Gerade hatte sie sich die helle Sonne vorgestellt, eine typische Sommersonne am Nachmittag, die die Brücken über der Seine in Gold tauchte. Plötzlich sah sie Pascal vor sich. Sie genoss seine Gesellschaft, stellte sich vor, wie sie seine Wange streichelte, während sie eines dieser Gespräche führten, die fortwährend von ihrem Freund Dominique unterbrochen wurden. Es war wundervoll, sich diese Momente vorzustellen.
Doch wie dorthin zurückkehren?
Wieder drängte sich Pascals Bild in den Vordergrund. Was empfand sie für ihn? Sie versuchte das Bedürfnis, ihn zu sehen, zu verdrängen. Was empfand sie für ihn? Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht einmal jetzt eine Antwort darauf wusste.
Etwas Besonderes war zwischen ihnen, das stimmte schon. Etwas, das vielleicht über eine Freundschaft hinausging. Sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Aber war dieses »Etwas« genug, um eine Beziehung anzufangen?
Obwohl – worüber machte sie sich eigentlich Gedanken?! Es gab keine Garantie dafür, dass sie Pascal jemals wiedersehen würde; eher war es möglich, dass ihre Antwort auf Pascals Frage für immer unbeantwortet blieb.
Es war, als würde jemand anders für sie entscheiden. Und das machte sie so wütend, dass sie sich schlagartig erhob – erheben wollte …
Sie schluckte und öffnete die Augen. Der Traum war vorüber.
***
Geräuschlos und schnell huschte Varney über die Dächer. Die Abstände zwischen den Häusern überwand er mit katzenhaften Sprüngen; leichtfüßig bewegte er sich durch die Nacht.
Der Vampir lächelte trotz seiner Gier. Er fühlte sich frei und mächtig. Diese Nachtstunden eröffneten ihm sein Königreich. In der irdischen Welt gehörte die Dunkelheit ihm, und wenn er sich unter die Lebenden mischte, passte er sich äußerlich perfekt an sie an. Er konnte sie riechen und spürte ihren Herzschlag.
Den Ort der Pforte hatte er bereits entdeckt. Endlich. Er war ganz in der Nähe.
Varney machte angewidert einen Bogen um die Kirche La Madeleine und erblickte kurz darauf das Haus, zu dem er unterwegs war. Auf dem Dach konnte er einen schmalen Streifen Licht erkennen; mit seinen geübten Augen sah er ihn schon aus der Entfernung.
Auf einmal bemerkte er einen Mann, der auf der Terrasse des
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