Pulphead
vollkommen anderen, düsteren Atmosphäre wieder. Dieser Effekt ist das klangliche Äquivalent zu einem Film, der in einem alten Projektor hängen bleibt: Das festsitzende Bild schmilzt, und seine Farben verlaufen. Das alles geschieht in sage und schreibe fünf Sekunden. Es ist unerklärlich. Chris King sagte dazu: »Das liegt nicht an irgendeiner Macke, die ich nicht repariert gekriegt hätte.« Ich fragte, ob die alten Aufnahmegeräte am Anfang vielleicht etwas schneller gelaufen waren. Er wies mich darauf hin, dass der Song nicht mit der Musik losgeht, sondern mit einer hohen Stimme, die ruft: »As sung by Cousins and DeMoss!«
Wenn ich diesen Song höre, muss ich unwillkürlich an meine Urgroßmutter Elizabeth Baynham denken, die in dem Jahr geboren wurde, in dem das Lied aufgenommen wurde. 1897. Ich habe also eine Verbindung zu diesem Jahr. Mich trennt keine unüberbrückbare Kluft von ihm. An meine Urgroßmutter erinnere ich mich nur noch als blinde Gestalt ohne Beine, die, im Rollstuhl sitzend und in ihre Häkeldecke gehüllt, auf dem Flur vor ihrem Zimmer auf uns wartet. Zu wissen, dass dieser Song ein Teil der Textur der Welt war, in die sie hineingeboren wurde, macht mir klar, dass ich diese Zeit, dieses Ende des 19. Jahrhunderts, trotz der zeitlichen Nähe nicht im Ansatz begreife. Der Abgrund der Vergangenheit ist nah, so nah, dass die Gegenwart andauernd in ihn hinabgesogen wird. Der russische Schriftsteller Wiktor Schklowski sagte einmal, die Kunst sei dazu da, »die Steine steinig zu machen«. Diese Tondokumente lassen uns etwas von der Zeitlichkeit der Zeit erahnen, von ihrer jähen Unwiderruflichkeit.
Wenn die absurde Fetischisierung früher schwarzer Südstaaten-Musik durch weiße Männer mit Pre-War Revenants ihren
Höhepunkt erreicht – wofür unter anderem auch dieser Essay steht –, dann erscheint diese Compilation zum genau richtigen Zeitpunkt, einem Moment, in dem wir die Entstehung einer neuartigen Transparenz im Schreiben über Blues erleben: die Entstehung der Wissenschaft von der Blues-Wissenschaft. In den letzten Jahren sind auf diesem Feld zwei gute Bücher veröffentlicht worden: Escaping the Delta: Robert Johnson and the Invention of the Blues von Elijah Wald und In Search of the Blues (das in der amerikanischen Ausgabe noch den Untertitel The White Invention of Black Music trägt) von Maribeth Hamilton. Beide sind fesselnd und leisten fundierte, notwendige Arbeit. Ich habe mich ihnen in einer Art Abwehrhaltung genähert, weil ich davon ausgegangen bin, unausweichlich von dieser beklemmenden Unlockerheit erfasst zu werden, die den Diskurs über den Country Blues von jeher überschattet, einen Diskurs über schwarze Musik und über eine bestimmte Phase der Musikgeschichte, der – von zwei namhaften Ausnahmen abgesehen, nämlich Zora Neale Hurston und Dorothy Scarborough – immer von weißen Männern geführt wurde und den zeitgenössische afroamerikanische Künstler für eher kurios halten.
Die beiden neuen Bücher setzen an die Stelle der ewiggleichen Legenden gut recherchierte Geschichten von sehr viel größerem Belang. Beiden ist daran gelegen, den Mythos vom »Delta-Bluesman« mit seinen Wegkreuzungen, Höllenhunden, Selbstvergiftungen und seinem so tiefgründigen Ausdruck existenzieller Einsamkeit zu dekonstruieren. In beiden Büchern wird dieses Bild komplexer. Wald entkräftet die Legende von Robert Johnsons »unerklärlicher« technischer Versiertheit, für die er, wie seine Gegenspieler raunend in Umlauf brachten, seine Seele verkauft haben soll, und präsentiert uns Johnson als selbstkritischen Techniker und interessierten Hörer der Schallplatten anderer Künstler, darunter Skip James, von dem Johnson die schöne Wendung »dry long so« klaute, was so viel wie
»mir doch egal« oder »nur so zum Spaß« bedeutet. Ich glaube, von den Besprechungen, die zu Escaping the Delta erschienen sind, hat nicht eine die gelungene Machart dieses Buches angemessen gewürdigt. Was teilweise dem Marketing geschuldet war, das mit der vagen Andeutung arbeitete, Robert Johnson würde im Buch als bloßer Pop-Imitator dargestellt bzw. entlarvt. Eigentlich aber bringt uns Escaping the Delta dazu, Johnsons Methoden mit noch größerer Wertschätzung zu begegnen.
Wald lässt uns die Studiosessions in San Antonio und Dallas aus der Perspektive Johnsons erleben, wobei er mit extremer Gründlichkeit Song für Song abhandelt (auch er ist ein lebenslanger Hörer dieser Musik). Er
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