Pulphead
nicht mal auf eBay, und zu den Herausgebern in Birmingham lässt sich kein Kontakt herstellen. Ist es möglich, dass sich Livengood einer Subpopulation von Männern zugehörig fühlte, die daran arbeiten, erfahrene Jäger von im Normalfall gar nicht bejagten Tieren zu werden? Plötzlich hatte ich niemanden mehr, der mir diese und andere Fragen beantworten konnte. Ich stieß auf einen Meeresbiologen von einer Ostküsten-Uni – er bat mich, weder seinen noch den Namen des Colleges zu nennen –, der sich an Livengood von einer Konferenz
erinnerte. Er erzählte mir: »Einiges von dem, worüber er gesprochen hat, fand ich sogar einigermaßen interessant. Aber damals ging es ihm auch noch nicht um mehr als um ein paar Verhaltensmuster von Raubtieren und ernährungstechnische Störungen. Aber das, was Sie mir da erzählen, hört sich so an, als hätte er eine Art Zusammenbruch gehabt.«
Ich wiederum hatte durch Livengood davon erfahren. Wir alle sollten durch ihn davon erfahren. Vielleicht kommt das ja noch. Aber das wäre in der Zukunft, und die ist, so viel sollte mittlerweile deutlich geworden sein, ein viel zu unübersichtliches Terrain, um sich ohne feste, leitende Hand darauf vorzuwagen. Ich begreife diesen Aufsatz, diese Bruchstücke des von Livengood zusammengetragenen Materials, diesen Schatten einer Annäherung an die Kühnheit seines Denkens über diese Themen, als ein Testament. Jedes Mal, wenn in den Nachrichten mal wieder eine Tiergeschichte kommt, muss ich an ihn denken. Eine Katze in einem Pflegeheim in Rhode Island, die vorhersagen kann, welche Patienten als Nächste sterben werden, und so lange an deren Betten sitzen bleibt? Seien Sie versichert: Marc Livengood hat so seine Gedanken dazu.
Die Anhänglichkeit von Haustieren war sogar ein wiederkehrendes Thema seines Monologs an unserem letzten gemeinsamen Abend in Nairobi. Welche Phase in der äonenlangen Lerngeschichte einer Art würde sich genetisch durchsetzen? Was wäre zum Beispiel, wenn Hunde von Wölfen vor die Wahl gestellt würden? Würden sie sich gegen den Menschen wenden oder ihn verteidigen? Wir gegen sie – darauf läuft es wohl hinaus.
Wir saßen an diesem Abend an einem ungemütlich winzigen Tischchen in einem Freiluftlokal ungefähr eine Meile vom Flughafen weg. Er redete. Ich hielt mein Glas mit der linken Hand, meine rechte Schreibhand flog nur so über das Papier. Er sprach davon, wie es laufen würde, wie es wirklich anfangen würde, wobei er sich nach jedem dritten oder vierten Satz un
terbrach, die Hände in einer »Stopp!«-Geste hochhielt und sagte: »Ist natürlich reine Spekulation. Nichts als Spekulation!«
Er skizzierte eines der unheimlichsten Weltuntergangsszenarien, von denen ich je gehört habe: Das Leben auf einem heimtückisch gewordenen Planeten. Ein rasant heraufziehendes Zeitalter der Unsicherheit und des Terrors, Wellen von immer massiver werdenden Angriffen aus der gesamten Biosphäre, Kreaturen, die aus den Tiefen der Ozeane emporsteigen und die Schifffahrt lahmlegen, kommandiert womöglich vom Ultraschall der Delfine. Wälder, die kein Ort zum Zelten mehr sind. Rudel von Wildkatzen, Hirschen und Elchen. Schon mal gesehen, wie Wanderer von Elchen zertrampelt werden? Es ist, als sähe man zu, wie Blechdosen von einem Dosenpresser zerquetscht werden.
Am Anfang werden sich alle noch an die Hoffnung klammern, dass es nur eine Phase ist, und diverse Beruhigungstheorien in Umlauf bringen: Dass es mit den Sonnenflecken zu tun hat oder mit dem Magnetismus des Erdkerns – jede Woche eine andere Erklärung, aber immer eine, die in Aussicht stellt, man werde »die Macht bald wieder in den Händen halten«, wie Livengood es gern formulierte.
»Sie müssen verstehen«, sagte er mir, »dass es sich hier um normale biologische Systeme handelt, die tun, was sie tun sollen. Für die Tiere sind wir eine Bedrohung. Sie reagieren nur so, wie sie von der Natur programmiert sind. In diesem Sinne ist nichts Revolutionäres an dem, was ich behaupte. Man könnte sogar sagen, dass es an meiner Arbeit nichts Neues gibt. Richtig interessant wird es erst, wenn man sich vor Augen führt, dass wir eine andere Art der Bedrohung darstellen. Wir stellen die Tiere vor die Aussicht auf die mehr oder weniger totale globale Herrschaft einer einzigen Art. Die niedrigeren Tierordnungen haben so etwas seit den Dinosauriern nicht mehr erlebt. Und behalten Sie immer im Hinterkopf, dass es auch damals eine Periode beschleunigter Evolution gab.
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