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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Im Ernst, gehen Sie doch mal systematisch an die Sache ran: Wo liegt das größte Nirgendwo Amerikas? Im Mittleren Westen, richtig? Ist man erst mal im Mittleren Westen, stellt man fest, dass jedes Teil-Nirgendwo Anspruch erhebt auf seine je eigene Irgendwohaftigkeit. Iowa hat die Einsamkeit der Prärie. Michigan hat einen Gordon-Lightfoot-Song. Ohio hält sich an seine nur bedingt lustige Fadheit und Durchschnittlichkeit. Irgendetwas haben sie alle. Aber wenn ich Sie auffordere, die Augen zu schließen, und dann sage: Indiana . . . Fehl
anzeige, oder? Und da sprechen wir noch von Indiana als Ganzem, also auch von Southern Indiana, wo ich aufgewachsen bin, und von Northern Indiana, das an einen der Großen Seen stößt. Da haben wir die Sache noch gar nicht auf Central Indiana eingegrenzt. Central Indiana? Klingt wie: Wo bist du?  – Nirgends.  – Na dann nichts wie hin!
    Als ich Jeff Strange, einen Frühstücksradio-Diskjockey in Lafayette, fragte, was er von diesem Teil der Welt halte – ob er ihn beispielsweise den Südstaaten zuschlagen würde, immerhin feiert der Ku-Klux-Klan hier fröhliche Urständ (was allerdings auch ein bisschen wie ein verzweifeltes So-tun-als-ob rüberkommt), oder doch eher dem Mittleren Westen –, wissen Sie, was er geantwortet hat? »Manche hier sprechen nur von ›der Gegend‹.«
    William Bruce Rose Jr.; William Bruce Bailey; Bill Bailey; William Rose; Axl Rose; W. Axl Rose.
    Von dort kommt er. Behalten Sie das im Hinterkopf.
    2.
    Am 15. Mai betrat er die Bühne, in Jeans, schwarzer Lederjacke und mit einer riesigen schwarzen Sonnenbrille ohne Fassung, mit der er aussah wie ein Insekt. Wir hatten so lange gewartet. Jahrelang. Stundenlang. Es war die dritte der vier Comeback-Shows im New Yorker Hammerstein Ballroom. Um sieben hatten sie die Türen aufgemacht. Um halb neun war die Vorband wieder von der Bühne runter. Jetzt war es nach elf. Im Publikum hatte es bereits Prügeleien gegeben, und es fühlte sich an, als könnte die Stimmung in der Halle, ohne dass irgendwas passierte, gar nicht noch aufgeheizter werden. Ich stand neben einer wirklich netten Frau aus New Jersey, einer Friseurin, die mir erzählte, ihr Mann mache »die Pyro« für Bon Jovi. Ständig smste sie einem Freund ihres Manns, der
für »die Pyro« des Konzerts heute zuständig war, und fragte ihn: »Wann geht's los?« Er smste zurück: »Wir sind noch nicht mal drin.« Irgendwann fragte ich sie: »Haben Sie vor einem Konzert schon mal ein Publikum erlebt, das derart unter Strom steht?« Und sie: »Ja, bei Bon Jovi immer.«
    Dann war er da. Es tut mir ja leid für die nette Frau, aber wenn Bon Jovi auftritt, drehen die Leute nicht derart durch. Denn: Die Leute. Drehten. Durch. Er ist nicht sonderlich groß – ich glaube, er kommt noch nicht mal an die einsachtzig ran, wenn man die Absätze seiner Stiefel (rotes Leder) mitrechnet. Mit der Kampfeslust einer Comicfigur stakste er auf uns zu.
    Alle reden in Sachen Axl ja nur noch über sein merkwürdiges neues Äußeres, und es fällt auch tatsächlich schwer, den ungewöhnlichen Eindruck, den er macht, außen vor zu lassen. Für mich sieht er aus, als würde er eine Axl-Rose-Maske tragen. Er sieht aus wie ein Mann, den ich vor zwölf Jahren um zwei Uhr morgens an einer Autobahnraststätte in Monteagle, Tennessee, alleine habe essen sehen. Er sieht immer mehr aus wie die Albino-Reggae-Legende Yellowman. Seine Mähne erinnert an einen Wust kompliziert geflochtener, erdbeerroter Hanffasern, deren straff verzwirnte Enden je einen Zentimeter tief in die Kopfhaut getrieben wurden. Seine Brusthaare haben die Farbe eines fabrikneuen Pennys. Mit der Insektensonnenbrille, den Zöpfchen und dem Ziegenbart hat er was von dem Monster aus Predator . Oder eher was von der Frau dieses Monsters auf ihrem Heimatplaneten. Am Anfang seiner Karriere sah er auf Fotos oft aus wie ein hübsches, zierliches, rothaariges zwanzigjähriges Mädchen. Jetzt hat er um die Mitte herum angesetzt – er ist auf eine muskulöse Art massig und nicht mehr fettärschig wie vor ein paar Jahren. Mit festem Griff umfasst er sein Gemächt, und sein Gemächt ist riesig. Ich berichte nur, was ich gesehen habe. Dann pflanzt er sich breitbeinig vor uns auf. »Do you know where you are?«, ruft er,
und wir brüllen, ja, wissen wir, aber er sagt es uns trotzdem: »You're in the jungle, baby.« Dann teilt er uns mit, dass wir sterben werden.
    Er muss geschmeichelt sein, nicht nur der extremen Art wegen,

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