Pulphead
Amerika. Blickt man in die dunklen Schatten hinter den Säulen, begreift man sofort, dass man ein Stein gewordenes Abbild der amerikanischen Psyche betrachtet, nicht das reale Land, sondern die Idee eines Landes, die himmlische Stadt, die sich die Philosophen des 18. Jahrhunderts ausmalten (man »steckt im wörtlichen und im physischen Sinn mitten in L'Enfants Traum«, wie es in einem Zitat George Sessions Perrys heißt, das man an der Freedom Plaza in den Asphalt graviert hat) –, erwartet uns dort ein überraschender Anblick: ein dunkler Schwarzer mit Sonnenbrille auf einem Videoschirm. Er steht wirklich selbst dort oben, aber man kann ihn vor lauter Menschen nicht sehen. Auf dem Bildschirm dreht er sich um und wendet sich direkt an den anderen Schwarzen, den im Weißen Haus.
Das ist Reverend C. L. Bryant, ein konservativer Prediger aus Louisiana. Heute ist sein großer Augenblick.
»Die Politiker haben Mauern gebaut«, sagt er. »Mauern aus Missverständnissen« (Rufe der Zustimmung), »Mauern zwi
schen den Rassen« (Brausen), »Mauern zwischen den Klassen« (Tosen).
»Lassen Sie mich die Worte zitieren, die Ronald Reagan vor der Berliner Mauer an Michail Gorbatschow gerichtet hat«, sagt Bryant, und seine Predigerstimme wird dabei dringlicher, unser Lärm verdreifacht sich, »Mr. Obama, reißen Sie diese Mauern nieder!«
Weiß Gott, was das bedeutet, aber er ist auf unserer Seite.
Der Rassismus ringsherum ist unverhohlen. Später wird man zwar das Gegenteil hören, doch er ist einfach nur komisch kodiert. Vielleicht liegt es am fortgeschrittenen Alter vieler von uns – der Faktor, der auch zu der Peinlichkeit mit den Teebeuteln führte –, dass wir immer noch in Siebziger-Jahre-Soulbrother-Slang verfallen, wenn wir rassistisch sein wollen. Der YES I AM -Zuhälterkönig ist nur ein Beispiel, solche Sachen findet man hier zuhauf. Ein Schild zeigt Obama, der ein Grab für die Verfassung buddelt, darunter steht »I don't dig Barack«. Das Beispiel ist jetzt möglicherweise zu subtil, um Sie zu überzeugen. Ein anderes Plakat allerdings zeigt ein Affengesicht und den Schriftzug » HEY , BRUDER , FINGER WEG VON MEINEM GELDBEUTEL «. Sie verstehen vielleicht so langsam, was ich meine.
Ein Vater und sein kleiner Sohn stehen neben einem Baum. Auf dem Schild des Vaters steht » WIR WISSEN , DASS DER PRÄSIDENT HEIMLICH RAUCHT – ABER RAUCHT ER WIRKLICH IMMER NOCH CRACK ?«
Dann wieder Musik. Nach Reverend Bryant hat ein konservativer Folksänger die Bühne betreten und spielt ein Lied mit dem Titel »We Gotta Get Back« (zum Zustand des 12. September).
Ronnie Reagan ist überall. » GRABT IHN AUS FÜR 2012« hat ein höflicher junger Student aus South Carolina auf sein Schild geschrieben. Er heißt Franklin McGuire, und ich frage ihn, auf welches Thema es ihm heute besonders ankommt. Er macht einen smarten Eindruck und absolviert diesen Herbst ein Praktikum bei einem konservativen Thinktank in Washington.
»Eigenverantwortung«, sagt er. Er ist noch jung, aber selbst er spürt, dass es bergab geht mit dem Land.
Wenn wir bei kleineren Tea-Party-Veranstaltungen draußen im Land auf Feldern oder in Parks stehen und darauf warten, dass Joe der Klempner seine Ansprache hält, hören wir uns über die Lautsprecheranlage alte Reagan-Reden an, die wir bei iTunes gefunden haben. Darin ist das eigentliche Amerika konserviert. Die Geschichte geht weiter, aber wir steigen aus.
Uns fällt nur ein einzelner Gegendemonstrant auf, sofern er überhaupt einer ist. Der Mann trägt einen Anzug, und sein Plakat fordert » BESTEUERT DIE REICHEN !«. Er steht mitten im Menschenstrom, man kann ihn nicht übersehen. Sein Schild verwirrt die Leute. Ein Tea-Party-Patriot in Jeans, Turnschuhen und Baseballmütze stellt ihn zur Rede. »Was ist denn verkehrt an reichen Leuten? Sind reiche Leute etwa nicht gut?«
»Ein paar von ihnen bestimmt«, antwortet der Mann im Anzug und zuckt mit den Schultern, als werde er von irgendjemand dafür bezahlt, hier rumzustehen. Hinten auf seinem Schild steht christliches Zeug.
Der Patriot kneift die Augen zusammen und will den Mann mit Beleidigungen eindecken, winkt dann aber angeekelt ab und stolziert davon.
Später an diesem Abend half mir ein großer, blonder, »mit Regierungsangelegenheiten befasster Mitarbeiter eines gut vernetzten Wirtschaftsverbands« (kurz: ein Lobbyist von einer dieser Klitschen, angesiedelt in der Halbwelt, in der Versicherungsleute und das politische Washington
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