Pulphead
einander begegnen) im Mandarin Oriental die Minibar einer Suite auszukundschaften, die irgendjemand anderes bezahlen wird.
Der Mann ist mein Cousin, wir sind zusammen aufgewachsen und halten immer noch engen Kontakt. In den vierziger Jahren hat unser Großvater mit zwei alten Freunden eine Ver
sicherung in Kentucky geerbt, die dort bereits seit 1850 im Geschäft ist. In jahrzehntelanger Arbeit machten sie die Versicherung zum ältesten und, über viele Jahre, erfolgreichsten kleinen Unternehmen des Staates. Heute leiten meine beiden Onkel die Firma, sie sind Zwillinge. Eines Tages sollen ihre Söhne sie übernehmen. Das ist die amerikanische Geschichte. Das ist eine amerikanische Geschichte. Mein Großvater fuhr Buicks, meine Onkel fliegen in Privatjets. Mein Großvater versprach Leuten seine Stimme; meine Onkel helfen Leuten dabei, gewählt zu werden. Ich bin am Rand dieser Welt großgeworden, wir waren eine typische Mittelklassefamilie, und ich freute mich über die Vorteile, die die Nähe zu einer solchen Firma mit sich bringt, wenn ich im Country Club wieder mal unzählige Cokes auf den Deckel meiner Cousins trinken durfte. Immer im Bewusstsein, dass dieses Wohlstandserhaltungssystem im Notfall für mich da wäre, dass man dann aber wieder auf Distanz gehen würde.
Sie ließen meine Familie und mich nie etwas von alldem spüren; sie sind nette und humorvolle Menschen, fast schon übertrieben fürsorglich und gastfreundlich. Bisweilen war es beinahe anstrengend. Man bekommt eine Art Taschengeld, wird in Gästezimmern untergebracht, nicht in Hotels – solche Sachen waren Gründe für ihren Erfolg. Aber sie hatten es nie nötig, uns das in irgendeiner Form spüren zu lassen. Sie gehörten zum Südstaatenadel, und wir waren nicht auf den Kopf gefallen. Wenn ich in der Dämmerung vom Balkon aus meinen liebenswerten Cousin mit seinem breiten Lächeln betrachtete (ich hatte einmal dabei geholfen, ihm einen Zahn zu ziehen), kam er mir vor wie der nächste logische Schritt in der Evolution. Als hätte unsere Provinzfamilie in einer Sonde eine Probe unseres Genoms nach Washington geschickt, um zu erkunden, welche Möglichkeiten sich in der Hauptstadt boten. Politik, mein Junge. Ihm gefiel das.
Wir sprachen über den Marsch des 12. September, den wir
uns teilweise zusammen angeschaut hatten. Ich machte ihm und seinen Kollegen Vorhaltungen, immerhin waren eigentlich sie für das Ganze verantwortlich. War der Müll, den diese Leute redeten, nicht ursprünglich den E-Mail-Programmen von Lobbyisten, »ehemaligen Vorstandsvorsitzenden« und anderen zynischen Gestalten entsprungen, die ihre eigenen Interessen verfolgten? Warum sonst sollten die Bürger da draußen eine dermaßen große Angst vor einem »verstaatlichten Gesundheitssystem« haben? Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen war in Rollstühlen »marschiert«, viele zeigten deutliche Anzeichen von chronischen Krankheiten und Fettleibigkeit, von ihrem Alter ganz zu schweigen – mit Sicherheit wurde der Löwenanteil der Kosten dafür von Medicare oder vom Ministerium für Kriegsveteranen übernommen. Diese Tea-Party-Leute verdankten dem staatlichen Gesundheitssystem ihr Leben. »Du und dein Vater«, sagte ich, »seid die Einzigen, für die etwas auf dem Spiel steht.«
Mein Cousin wies das zurück. Er habe mit alldem rein gar nichts zu tun. Er und seine Kollegen betrachteten die Demonstranten höchstens als »willkommene Ablenkung«, was ich für mich übersetzte als »sie verleihen einer Sache nützlichen populistischen Glanz, bei der es sich im Kern um eine Meinungsverschiedenheit innerhalb der Eliten darüber handelt, wie die Dinge geregelt werden sollen«.
»Das waren die Palin-Leute«, sagte mein Cousin.
»Genau«, sagte ich. »Das war ›Senioren entdecken das Internet‹.«
Er erzählte mir, ein paar dieser Leute hätten ihn heute in seinem Büro besucht. »Verstehe«, sagte ich. »Und wenn diese Leute dann im Fernsehen lautstark gegen ein staatliches Gesundheitssystem protestieren wollen . . .«
»Dann ist das doch eine tolle Sache!«
Ich hatte immer noch das fast körperliche Gefühl, mit ihnen da unten auf der Straße zu stehen. Was mein Cousin über sie
sagte, spiegelte nicht annähernd wider, wie sie sich selbst sahen. Sie holten sich die Macht zurück, sie nahmen ihr Schicksal in die Hand. Doch selbst der afrikanische Zuhälterkönig war nur eine Art Bauer in einem Schachspiel – oder wie auch immer Bob Dylan das in einem seiner elfminütigen
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