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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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für einen König! (Ist das die Bedeutung von » YES I AM «? Ja, ich bin König?) Der König trägt einen leuchtend violetten Zuhältermantel mit einem Kragen aus falschem Leopardenkragen. Ein afrikanischer König also? Der Umhang sieht aus wie etwas, das man in einem Antiquitätenladen im Süden entdeckt, aber dann doch dort hängen lässt. Wir machen ein Foto und drehen uns weg.
    Man kann sich nicht mehr so leicht seitwärts bewegen wie noch vor ein paar Minuten. Langsam bewegt sich die Menge weiter. Auf zum Kapitol!
    Das Datum ist gut gewählt. In Wahrheit hat man die Demonstration sogar nach dem Datum benannt. Der Marsch des 12. September. »9/12« bezieht sich auf eine Bewegung, die auf Glenn Beck von Fox News zurückgeht, der die Ereignisse heute im Studio begleitet. Glenn will, dass wir als Nation wieder so werden wie am Tag nach dem 11. September. Kein Rot, kein Blau, kein Rechts, kein Links, nur Amerikaner, vereint und bereit. In den Straßen von New York City haben die Menschen Bush damals mit Applaus empfangen, auch jene, die ihn nicht gewählt hatten und das auch 2004 nicht tun würden. Er war der Präsident.
    Ist es seltsam, mit Nostalgie auf diesen Tag zurückzublicken? Es war immerhin der erste Tag einer Art Krieg. Die menschlichen Überreste in den Trümmern der Gebäude schwelten noch. Für sehr viele Menschen war es eine zutiefst traumatische Zeit; nur wer die Ereignisse aus großer Distanz erlebt hat oder eine abstrakte Beziehung zu ihnen pflegt, wird sich freiwillig an diesen Tag erinnern – geschweige denn, die Stimmung bewusst noch einmal heraufbeschwören. Man muss schon ein unfassbar großer Narzisst sein, um auf die Idee zu kommen,
diesen Zustand bewahren zu wollen. Aber wir haben uns den Namen ja auch nicht ausgedacht. Er stammt von Beck, obwohl der das abstreitet und obwohl er heute nicht hier ist. Im Fernsehen hat er seine Rolle so beschrieben: »Wenn du es baust, werden sie kommen.«
    Beck ist ein Entertainer. Wir lieben ihn, aber manchmal übertreibt er es.
    Wie viele sind wir? Wie immer, wenn es um die Schätzung politisierter Menschenmassen geht, wird man sich wochenlang über die wahre Teilnehmerzahl streiten. Unter den Anwesenden kursieren wilde Spekulationen (zwischen anderthalb und zwei Millionen); die Nörgler von der Stadtverwaltung werden später viel bescheidenere Zahlen präsentieren (etwa sechzigtausend). Fünfundsiebzigtausend würde der Sache wahrscheinlich am ehesten gerecht. Bei einer Demonstration wie dieser kommt es ohnehin vor allem darauf an, dass sie sich groß anfühlt, und man braucht nicht viel, um sich wie eine Armee zu fühlen.
    Ab und zu schreit jemand: »Hört ihr uns jetzt ?« (Das ist der Satz des Tages, zusammen mit »Ich will mein Amerika zurück!«). Meistens lächeln dann nur die Leute in unmittelbarer Hörweite, oder sie kichern kurz. Man kennt das von Konzerten, wenn jemand im Publikum etwas Witziges ruft und sich alle grinsend nach dem Rufer umdrehen – so gucken wir, wenn jemand »Hört ihr uns jetzt ?« schreit.
    Diese amüsierte Reaktion erinnert uns immer wieder daran, dass es sich bei unserem Marsch auch – vielleicht sogar hauptsächlich – um eine ironische Großveranstaltung handelt. Konservative demonstrieren nicht. Konservative schütteln den Kopf und halten am Straßenrand Schilder in die Höhe, wenn die Linken marschieren. Aber heute marschieren wir selbst. Wir »marschieren«. (Wir können das nämlich auch.)
    Das erklärt auch, weshalb so viele von uns glauben, dass zwei Millionen Menschen da sind, was deutlich mehr wäre als
bei Obamas Amtseinführung. (Die legte damals die ganze Stadt lahm; wir behindern nicht einmal den Verkehr.) Schließlich war niemand von uns jemals zuvor auf einer Demonstration.
    Zum ersten Mal in unserer Geschichte wohnt ein Schwarzer im Weißen Haus, und heute wird erstmals massiv gegen seine Regierung protestiert. Wir sind zu 99,9999 Prozent weiß und glühende Anhänger von rassenhetzerischen TV -Experten – und das in Amerika, wo man keinen Laden betreten kann, ohne mindestens drei heftige, heikle, bisweilen auch inspirierende Vorfälle mitzubekommen oder am eigenen Leib zu erleben, bei denen es um die Spannungen zwischen den Rassen geht –, doch trotz alledem hat das hier heute »nichts mit Rasse zu tun«. Kommende Generationen werden vom »Rassenwunder des 12. September« sprechen.
    Wir nähern uns dem Kapitol – ohne Zweifel die bewegendste von Menschenhand geschaffene Sehenswürdigkeit in

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