Pulphead
porösen Schichten von Sturzbächen ausgewaschen werden. Wasser schießt aus Steilwänden: Die Ränder eines Plateaus sind nicht sanft wie die Hänge eines Bergs, sie sind wie abgeschnitten oder stürzen an den Rändern jäh hinab. Diese Klippen bilden eine physische Hürde für sämtliche Lebewesen, oben leben daher andere Tiere und Pflanzen als unten. Für den deutschen Naturforscher Alexander von Humboldt war diese klare Trennung zwischen unterschiedlichen Lebensräumen Kennzeichen eines echten Plateaus (Humboldt tadelte seine Kollegen gerne für ihren laxen Umgang mit dem Begriff Plateau ).
Das Cumberland-Plateau ist besonders: Es ist ein Karstplateau, und Karst bedeutet Höhlen. Tatsächlich ist es eine Höhlenlandschaft, das Ergebnis des Aufeinandertreffens von viel nacktem Kalkstein und Regen. Der Begriff Karst stammt von einem anderen Plateau im Grenzgebiet von Slowenien und Italien. Dort unternahmen Geologen erste Schritte zur Erforschung des Karstphänomens , wie sie die einzigartigen und manchmal bizarren hydrologischen Formationen nennen sollten, die man in karstischen Terrains findet: Dolinen, Reculées, Buchten und unterirdische Seen. Zu den berühmtesten Karstphänomenen gehören die sogenannten verschwindenden Flüsse. Man hat einen großen, rauschenden Fluss, der seit Jahrtausenden fließt, und plötzlich entsteht ein Loch in seinem Kalksteinbett, und der gesamte Strom verschwindet auf Nimmerwiedersehen in ein Höhlensystem unter der Erde. Das kann ganz plötzlich geschehen, Menschen haben dieses Phänomen beobachtet. Auf dem Cumberland-Plateau gibt es einen klassischen verschwundenen Fluss, man könnte auch von ei
nem Geisterfluss sprechen, dessen auf ewig trockenes Bett sich durch den Wald schlängelt wie eine weiß gepflasterte Landstraße.
Das Plateau ist förmlich wurmstichig vor lauter Höhlen. Schachthöhlen, Kuppelhöhlen, große, weitläufige Touristenhöhlen und kleine, nicht einmal dreißig Meter tiefe Felsspalten – vor gar nicht langer Zeit verkündeten Forscher die Entdeckung der Rumbling Falls Cave, eines (soweit wir bisher wissen) fünfzehn Meilen langen Höhlensystems, in dem es eine sechzig Meter hohe Kammer namens Rumble Room gibt, in der man locker ein paar Sozialbauten errichten könnte. All das befindet sich im Plateau und im Inneren seiner Umrandung aus Kalkstein.
Wir rauschten in einem weißen Truck über die Hochebene. Der Archäologe Jan Simek, den ich gerade auf einem Parkplatz kennengelernt hatte, saß hinter dem Steuer (Jan wie Jan van Eyck, der flämische Maler, nicht wie Jan Brady aus der Serie Brady Bunch ). Er ist Professor an der University of Tennessee und hat die letzten fünfzehn Jahre die Forschungsarbeit in den Höhlen ohne Namen geleitet. Man nennt sie so, um ihre Lage geheim zu halten. Wir wollten zur Elften Namenlosen. Es war ein klarer später Wintertag, so spät, dass er wie frühester Frühling aussah und sich auch so anfühlte. Simek ist ein Mittfünfziger mit breiter Brust – buschiges dunkles Haar mit stahlgrauen Strähnen, sportliche Sonnenbrille. Dem Namen nach hatte ich einen Europäer erwartet, aber er war in Kalifornien aufgewachsen. Sein Vater, Vasek Simek, stammte aus der Tschechoslowakei und war Charakterdarsteller in Hollywood: Er spielte sowjetische Präsidenten, russische Schachspieler, zwielichtige Wissenschaftler aus »dem Ausland«. Jan sieht aus wie er. Er hat einen freundlichen Sarkasmus an sich. Er machte Witze über mein edles neues Notizbuch und wollte mir ein wasserdichtes besorgen, wie es die Geologen benutzen.
Simek wusste nichts von den Höhlen, als er 1984 an die University of Tennessee kam. Damals hatte man erst einige von ihnen entdeckt. Seine bekanntesten und für seine Karriere wichtigsten Forschungsarbeiten hatte er in Frankreich durchgeführt – nicht in berühmten Höhlen voller Kunst, sondern in Siedlungen der Neandertaler. Simek hatte fast zehn Jahre in Grotte XVI in der Dordogne gearbeitet, einer altsteinzeitlichen Höhle mit weitem Eingang und gewaltigen Schätzen an kulturellen Ablagerungen. Aufgrund der komplizierten hydrologischen Geschichte der Höhle waren die schichtenkundlichen Befunde verwirrend. Man konnte dort nicht einfach graben. Unter einem dreißigtausend Jahre alten Artefakt tauchte plötzlich ein zwanzigtausend Jahre altes auf. Und wenn man in diese sehr tiefen Schichten vorstieß, waren sie so komprimiert und dünn, dass man nach Schlieren dunkler Erde suchte: Feuerstellen der
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