Pulphead
längst vergangener Überschwemmungen, die von der stabilen Temperatur und Feuchtigkeit in der Höhle bewahrt worden waren. Das Zeug war noch
weich. Zunächst sah es so aus, als hätte ein Kind mit Fingerfarbe alles vollgemalt – die Männer waren sich nicht einmal sicher, ob es sich lohnen würde, irgendjemandem davon zu erzählen. Der Älteste unter ihnen interessierte sich allerdings für Lokalgeschichte. Ein paar der Motive hatte er bereits als Malereien auf Töpfen und Schalen gesehen, die man auf den Feldern der Gegend gefunden hatte: Vogelmänner, ein tanzender Krieger, eine gehörnte Schlange. Hier gab es zudem naturalistische Tierdarstellungen: eine Eule und eine Schildkröte. Ein paar der Bilder schienen erst gemalt und dann auf ritualhafte Weise verstümmelt worden zu sein, erstochen oder mit einem Stock verprügelt.
Über die Entdeckung der Mud Glyph Cave wurde weltweit berichtet, es gab ein Buch und einen Artikel im National Geographic . Niemand wusste damals, wie man die Höhle einordnen sollte. »Am ehesten«, berichtete der Christian Science Monitor , »ist sie mit den südfranzösischen Höhlen und ihrer Eiszeitkunst zu vergleichen.« Ein Team von Wissenschaftlern kam vor Ort zusammen. Die Glyphen, stellten sie per Kohlenstoffdatierung einiger halbverbrannter Schilfreste fest, waren etwa achthundert Jahre alt und konnten der Mississippi-Kultur zugeordnet werden, dem Vorläufer der heutigen Stämme im Südosten und Mittleren Westen der USA . Die Bildsprache war typisch für den Southeastern Ceremonial Complex ( SECC ), den gewaltigen, aber immer noch unzulänglich erforschten religiösen Ausbruch, der um 1200 nach Christus über den östlichen Teil Nordamerikas fegte. Wir wissen einiges über die Kunst dieser Periode, weil wir etliche Objekte kennen, die Plünderer und Archäologen im Lauf der Jahre aus Gräbern geholt haben: Wie Tierkörper geformte Schalen und Pfeifen und kniende Götzen mit geisterhaftem Blick; die geschnitzten Ringkrägen der Eliten. Aber diese unterirdischen Malereien waren neu, eine unbekannte Form kulturellen Schaffens aus dieser Phase. Die dauernde Feuchtigkeit der Höhlenwände hatte, um mit den
Worten eines Kunsthistorikers vor Ort zu sprechen, »eine Tradition erhalten, die uns sonst nur wenige Spuren hinterlassen hat«.
Diese Aussagen sind fünfundzwanzig Jahre alt. Heute kennen wir östlich des Mississippi mehr als siebzig solcher Höhlen, und jedes Jahr kommen neue hinzu. In einer Handvoll davon findet man nur spärliche Markierungen und Schraffuren ( lusus Indorum war der Begriff der Altertumsforscher), aber andere sind recht aufwendig, weit mehr noch als in Mud Glyph. Einige sind zudem deutlich älter. Die bisher älteste stammt etwa aus dem Jahr 4000 vor Christus. Die Höhlen finden sich in einem Gebiet, das sich von Missouri bis nach Virginia und von Wisconsin bis nach Florida erstreckt, aber die meisten liegen mitten in Tennessee, ein Großteil davon auf oder in der Nähe des Cumberland-Plateaus, das in einer Südwest-Neigung entlang des östlichen Teils des Staates verläuft wie eine riesige Mauer, die die Appalachen vom Landesinneren trennt.
Genau das war es auch für die weißen Siedler, die mit ihren Fuhrwerken auf die andere Seite wollten. Wenn man etwas über Daniel Boone und den »Cumberland Gap« liest und darüber, wie begeistert man im 18. Jahrhundert war, einen natürlichen Pass über die »Cumberland Mountains« entdeckt zu haben (den im Übrigen jeder anständige indianische Führer kannte), dann sprechen die Autoren von diesem Plateau. Rein technisch gesehen ist es kein Berg oder eine Bergkette, auch wenn es so ähnlich aussieht. Ein Berg entsteht, wenn zwei tektonische Platten gegeneinander krachen und die Vorderseiten sich in den Himmel erheben wie Sumoringer auf der Matte. Ein Plateau hingegen liegt oberhalb der Landschaft, weil es übrigblieb, während alles andere drum herum weggeschwemmt wurde. Die Hochebene des Cumberland-Plateaus besteht aus einer waagerechten Schicht erosionsresistenten Grundgesteins, einem kieseligen Sandsteinkonglomerat, das die Auflösung und Abschwemmung der direkt darunter liegen
den Schichten verhindert oder sie zumindest verzögert. Mehr kann das Gestein allerdings nicht ausrichten. Wenn man in einem kleinen Flugzeug über das Plateau fliegt, sieht man, dass es ein riesiger, zerfallender Block ist, der Felsbrocken groß wie Häuser kalbt, während saisonale Frostsprengungen ihn innerlich bersten lassen und seine
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