Pulphead
Verschwindens Anhaltspunkte zu liefern, anhand deren sich die Chronologie würde rekonstruieren lassen. In einer Tankstelle wurde ich Zeuge einer Unterhaltung über Religion. Ich zögere fast, sie aufzuschreiben, weil sie so ausgedacht klingt. Die Frau an der Kasse redete mit einem Hillbilly, der gerade ein Päckchen Billigzigaretten gekauft hatte. Der Typ meinte, dass es in diesem Teil von Kentucky alle möglichen Religionen gebe.
»Haben Sie schon mal Schlangen gesehen?«, fragte die Frau. Sie meinte die christlichen Schlangenbeschwörer, die es hier im Süden noch gibt.
»Nee«, sagte der Mann. »Sie?«
»Nicht in der Öffentlichkeit«, antwortete die Frau. »Aber ich kannte Leute, die das im Hinterzimmer machten.«
Während ich zahlte, tauschten sie ein paar Nichtigkeiten aus, dass jeder seinen eigenen Glauben habe etc. Doch dann sagte die Frau: »Sagen wir so, wenn zehn Leute einen Autounfall sehen, erzählt jeder der Polizei eine andere Geschichte.« (Eine anschauliche Art, das Gleichnis von den Blinden, die den Elefanten abtasten, auf Kentucky zu übertragen, wie ich fand.)
»Sagen Sie mir, welcher von ihnen aussteigt, um zu helfen«, sagte der Mann, »und seine Religion wird meine Religion sein.«
Die Frau und ich standen da. Uns beiden war auf unsere je eigene Weise bewusst, dass uns Snuffy Smith da gerade durch eine Öffnung in seinem vom Tabak braunen Bartnest eine höhere Weisheit vor die Füße gespuckt hatte.
Zurück im Hotel rief ich Sparkmans Sohn Josh an. Ich war ihm schon einmal in der Auffahrt vor ihrem Haus begegnet. Ein mit allerhand schwerem Gerümpel beladenes Sofa hatte wie eine Barrikade vor der Haustür gestanden, und ein riesiger Hund hatte auf eine Weise gebellt, die klarmachte, dass er so lange weiterbellen würde, bis man verschwand. Ich wollte Josh gerade eine Nachricht hinterlassen, als er in die Einfahrt bog. Er war ein bärtiger Junge mit dunklem Haar und sorgenvollen Augen, erst höflich, dann unerwartet redselig. Er sei nur hier, um ein paar Sachen vorbeizubringen. Wir könnten uns später treffen.
Josh beharrte darauf, dass sein Vater sich nicht umgebracht habe. Er wiederholte mir gegenüber, was er auch den anderen schon gesagt hatte: Ein Mann, der so tapfer gegen den Krebs kämpft, bringt sich nicht um. Bill Sparkman hatte jeden Tag bewiesen, wie sehr er am Leben hing. Es machte Josh wütend, dass die Polizei seinem Vater auch noch die Würde des Opfers verweigerte. Ihre Rumeierei ließ die ganze Sache immer geschmackloser werden. Tatsächlich versetzten mich an meinem letzten Tag in London zwei meiner zuvor kooperativen Inter
viewpartner. Niemand wollte mehr etwas mit dieser Geschichte zu tun haben.
Joshs Interesse an der Feststellung der Todesursache hatte jedoch auch ganz praktische Gründe. Er wollte das bescheidene Farmhaus behalten, das als sein Erbe gedacht war. Bill Sparkman hatte sechzehn Jahre lang gearbeitet, um Josh dieses Haus hinterlassen zu können. Ohne das Geld aus der Lebensversicherung seines Vaters würde er es verlieren.
Er erzählte mir, dass die Versicherung schon Probleme gemacht hatte, ehe die Leute überhaupt angefangen hatten, den Tod seines Vaters wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Sie hatten behauptet, sein Vater habe eine Rate nicht gezahlt und die Versicherungspolice sei schon vor seinem Tod ungültig gewesen. Josh wollte wissen, ob ich Rechtsanwälte kannte.
Er und sein Vater hatten im Jahr zuvor eine schwierige Phase durchgemacht. Während Bill gegen den Krebs kämpfte, war Josh mit ein paar geklauten Sachen erwischt worden und schließlich bei einer Church's-Chicken-Filiale gelandet. Sie hatten ihre Beziehung seitdem allerdings gekittet und sich noch kurz vor Bills Tod gesehen.
Die ganze Sache war todtraurig, wenn nicht sogar schlimmer. Das war die eigentliche Frage, glaube ich: War alles noch schlimmer? Betraf das alles mehr als nur diese paar Leute hier unten? Die Polizeichefin war direkt zum Punkt gekommen: »Was suchen Sie hier?« Als auch Josh mich am nächsten Tag versetzte, packte ich meine Sachen und flog nach Hause.
Der Abschlussbericht der Polizei kam Wochen später – ich sah mir die Ausführungen der Polizeichefin live im Internet an – und war wie eine finstere Schlusspointe. Bei Sparkmans Tod ging es vor allem um das Gesundheitssystem. Ohne eine vernünftige Versicherung hatte er sich im Kampf gegen die Lymphome finanziell ruiniert. Um seine Schulden und die Hypothek abzuzahlen, hatte er mehrere
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