Pulphead
Neandertaler. »Im Prinzip betreibe ich eigentlich Bodenchemie«, sagte Simek. Seine Arbeit in Grotte XVI spielte eine wichtige Rolle bei der Rehabilitierung der Neandertaler, die sich in den letzten zehn Jahren vollzogen hat. Simek konnte zeigen, dass sie uns ähnlicher waren als vermutet, schlauer und sozial komplexer (tatsächlich sind wir sie: wir wissen aus DNA -Untersuchungen in Deutschland, dass die meisten von uns Neandertaler im Stammbaum haben).
Simek jedenfalls hatte von Mud Glyph gehört – das Buch, das sein Kollege Charles Faulkner über die Höhle herausgab, erschien gerade, als er in Tennessee anfing. Als Neuankömmling fiel ihm die Aufgabe zu, Doktoranden für die Bodenschatz-Studien der Tennessee Valley Authority ( TVA ) auszuwählen, und Simek erinnerte sie daran, immer die Wände der neu entdeckten Höhlen zu prüfen, ehe er sie ins Feld entließ. Nachdem er das jahrelang ohne großen Erfolg getan hatte, platzten eines Abends ein paar Studenten in sein Büro und berichteten aufgeregt von einer Höhle, die sie oberhalb des Tennessee Rivers entdeckt hatten. An eine der Innenwände sei eine
Spinne gemalt. Sie zeichneten für ihn um die Wette, wie der Spinnenkörper kopfüber an der Wand hing, die Augen nach vorne gerichtet. Simek ging zum Regal und zog ein Buch heraus. Er schlug eine Abbildung auf, die ein Gorget zeigte, ein Muschelamulett aus der Zeit der Mississippi-Kultur mit einer beinahe identischen Spinne in der Mitte. »Sah sie so aus?«, fragte er.
Das war die erste Höhle ohne Namen, »bis heute meine Herzenshöhle«, sagte Simek. Als ich mit ihm hinfuhr, zeigte er mir die Spinne. Und dann eine seltsame, menschenartige Figur mit langem, wallendem Haar, die Hände über dem Kopf. Die Erste Namenlose ist ausgerechnet die jüngste dieser Höhlen. Ihre Malereien stammen etwa aus der Zeit um 1540. Die Spanier waren bereits seit einigen Jahrzehnten in Florida und hielten Sklaven. Epidemien suchten in großen, vernichtenden Wellen den Südosten heim. Der Konquistador Hernando De Soto erkundete mit seinen Männern die Region und stieß dabei bis ganz in die Nähe der Höhle vor. Die Welt des Volkes, das diese Glyphen geschaffen hatte, die späte Mississippi-Kultur, fiel bereits auseinander.
Wir bogen in eine Seitenstraße, dann in eine andere, stärker zugewachsene, und schließlich fuhren wir über Haarnadelkurven hinunter in ein Tal. Erst als ich unten ausstieg und mich umsah, bekam ich ein Gefühl dafür, wo wir uns befanden – es sah aus, als hätte ein Riese eine Axt kilometertief in den Boden gehauen und sie wieder herausgerissen. Um uns herum stiegen bewaldete Wände hoch und höher. Wir liefen über die kleinen schmalen Patchwork-Felder. Die Farm gehörte den Leuten, die sich um diesen Ort kümmerten. Jan hatte sie angerufen und uns angekündigt. Über unseren Köpfen sah man einen Keil blauen Himmels, auf einer Seite sammelten sich Sturmwolken. Donner erfüllte das Tal.
Wir näherten uns einer Grotte. Ein gebogener, einem Amphitheater ähnlicher Berghang führte hinab in einen Kessel.
Es war das Paradies. »Noch nie hat es ein Taucher geschafft, den Grund von diesem Ding zu erreichen«, sagte Jan und zeigte auf das blau-schwarze Bassin. Frösche sprangen hinein, als sie uns sahen (oder hörten). Wir traten zur Seite und folgten einem schmalen Pfad durch Farne, violetten Phlox und kleine weiße trompetenartige Blumen, deren Namen ich nicht kannte.
Wir umrundeten das Becken auf einer schmalen Kante und erreichten den Eingang. Jan hatte Probleme mit dem Schloss. Es sah aus wie ein riesiges Stück Metall. Ich fragte mich, ob sie nicht ein wenig übertrieben – aber das war, bevor ich die ganzen Geschichten darüber gehört hatte, was manche Menschen in Tennessee anstellten, um in Höhlen zu gelangen, die sie nicht betreten sollten: Dynamit, Schneidbrenner, Lastwagen, die man an Höhlentore kettete, um sie im Ganzen aus dem Erdreich zu reißen. Jan schickte mich zurück zum Auto, um Motoröl für das Schloss zu holen. Ich ging gerne und lief nicht schneller als nötig durch diesen heiligen Ort, der jungfräulich weiße Grubenhelm baumelte an meiner Hüfte.
Eine Aufzeichnung der ersten Weißen, die diesen Ort gesehen haben, hat überlebt. Im Jahr 1905 fand ein Mann aus dem Dorf die Notizen seines Urgroßvaters, der 1790 zu den Erstbesiedlern des Tals gehört hatte, und veröffentlichte sie in der Lokalzeitung. In der Hoffnung auf ein kleines Utopia, eine Gemeinschaft mit ihren eigenen
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