Pulphead
der Höhle flach auf den Rücken. Ich tat es ihm nach. Wir beide sahen nach oben. Mit seiner Lampe tastete er eine Bilderreihe ab. Die Bezeichnung Tafelbild fühlte sich instinktiv richtig an – es gab eine Reihenfolge, eine Art Geschichte wurde erzählt. Da war eine Axt oder ein Tomahawk mit menschlichen Zügen und einem verzierten Haarknoten, einem Irokesenschnitt ähnlich (derselbe Haarknoten, den wir von den Spechten kannten). Neben der Axt hockte ein Kriegsadler, der mit ausgebreiteten Flügeln Schwerter schwang. Und zuletzt das Bild eines Krönungszepters, geformt wie ein länglicher Läufer beim Schach, das wohl eine symbolische Waffe darstellen sollte und möglicherweise von der Elite der Häuptlinge bei öffentlichen Ritualen getragen wurde. Ein typisches Artefakt der Mississippi-Kultur, was bedeutet, dass sein Fund immer auf den Southeastern Ceremonial Complex hindeutet, den Archäologen Southern Death Cult genannt haben (und immer noch so nennen, wenn sie unter sich sind). In diesem Fall schien sich das Objekt in einen Greifvogel zu verwandeln. Was hatte das zu bedeuten?
»Das wissen wir nicht«, sagte Simek. »Aber es geht eindeutig um Transformation.«
Hier verwandelte sich alles, in alles andere.
Wenn es darum geht, was all das zu bedeuten hat, sind nicht alle so skeptisch wie Simek. In den letzten zehn Jahren hat eine texanische Forschergruppe unter der Führung des Anthropologen F. Kent Reilly verschiedene historische Aufzeichnungen verwendet – hauptsächlich ethnografische Studien aus dem 19. Jahrhundert –, um sich in die Weltsicht der Mississippi-Kultur einzuarbeiten, samt ihrer grausigen Kriegsgötter und -monster und dem Glauben an einen dreigeteilten Kosmos aus Oberwelt, dieser Welt und Unterwelt. Die Arbeitsgruppe SECC , wie sie genannt wird, behauptet, dass von der Mississippi-Kultur weit mehr übrig ist, als allgemein anerkannt wird. (Die Europäer sind ihnen immerhin noch begegnet, die Glut der Mississippi-Gesellschaft verlosch erst, als die Franzosen 1731 die letzte »Große Sonne«, wie die Natchez ihre Häuptlinge nannten, versklavten). Reilly und seine Mitarbeiter haben die Forschungsgruppe ausdrücklich nach dem Vorbild des Maya Hieroglyphic Workshop der University of Texas aufgebaut, einem Epigraphiker-Seminar, das die Entzifferung der Maya-Glyphen vorantrieb und uns dadurch ein (ansatzweises) Verständnis der Maya-Gesellschaft ermöglichte.
Im Falle Nordamerikas gibt es keine Sprache, die zu knacken wäre. Die technisch avancierteste Gesellschaft amerikanischer Ureinwohner, die Mississippi-Kultur zu ihrer Hochzeit – eine Kultur, deren majestätische Mounds den mexikanischen Steinruinen in fast nichts nachstanden, die jedoch aus Erde waren und deshalb schneller verschwanden –, hat uns nichts zum Lesen hinterlassen. Fachleute für nordamerikanische Prähistorie hat das immer ein wenig in den Wahnsinn getrieben. Etliche verrückte Theorien rankten sich um eine mysteriöse Schreibtafel voller hebräischer oder phönizischer Buchstaben, die in einem indianischen Mound aufgetaucht war. Ein genialer Naturforscher des 19. Jahrhunderts, Constantine Rafinesque, das durchgeknallte Genie aus Kentucky, hatte in der Tat riesige und weithin anerkannte Fortschritte bei der Ent
schlüsselung der Maya-Sprache gemacht und gleichzeitig das Lenape erfunden, eine nordamerikanische Schriftsprache, die nie existiert hat.
Ich traf Kent Reilly vor einigen Jahren in Chicago. Er führte mich durch die »Hero, Hawk, and Open Hand«-Ausstellung am Chicago Art Institute. Es war die erste wirklich repräsentative Ausstellung indigener Kunst Nordostamerikas. Sie enthielt die großen Werke – große Plastiken, aus dünnen Glimmer-Scheiben geschnittene Figuren, Gefäße mit menschlichen Gesichtern aus Arkansas –, aber wahrscheinlich waren sogar Fachleute überrascht von den weniger bekannten Artefakten: der Nachbildung eines menschlichen Daumens aus einem zweitausend Jahre alten Hopewell-Grab oder dem sogenannten Froschgefäß, einer roten Schüssel aus der Mississippi-Kultur, mit realistisch aussehenden grünen Fröschen verziert. Wie viele Amerikaner aus dem Mittleren Westen waren sich im Klaren darüber, dass die Kulturen unter ihren Füßen eine solch große Ausdrucksvielfalt erreicht hatten?
Reilly beschrieb einige der Leistungen seiner Gruppe. Mithilfe intensiver Motivanalysen hatten zwei Mitarbeiter eine exotisch aussehende geometrische Form, die auf etlichen Mississippi-Objekten zu
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