Puls
lächerlich.
»Was?«
»Nicht so laut, Clay. Ich mache die Nachrichten nicht, ich überbringe sie nur.«
»Dann erzähl mir um Himmels willen, wovon du redest.«
»Er will nicht ohne den Rektor mitkommen. ›Ihr könnt mich nicht dazu zwingen‹, sagt er. Und wenn du tatsächlich heute Nacht schon losziehen willst, hat er wahrscheinlich Recht.«
Alice kam aus der Küche geflitzt. Sie hatte sich gewaschen, ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und ein frisches Hemd angezogen, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Ihre Haut glühte in demselben Krebsrot, das Clay auf seiner spürte. Vermutlich konnten sie von Glück sagen, dass sich keine Brandblasen gebildet hatten.
»Alice«, begann er, »ich möchte, dass du versuchst, Jordan mit weiblicher Raffinesse umzustimmen. Er will nicht ...«
Sie wetzte an ihm vorbei, als hätte er nichts gesagt, fiel auf die Knie, zog ihren Rucksack zu sich her und riss ihn auf. Er beobachtete verwirrt, wie sie die eingepackten Sachen wieder herausholte. Als er zu Tom hinüberblickte, sah er auf dessen Gesicht Verständnis und Mitgefühl heraufdämmern.
»Was ist denn?«, fragte Clay. »Was, um Himmels willen?« Er hatte einen ganz ähnlichen erbosten Ärger gegenüber Sharon in ihrem letzten gemeinsamen Jahr empfunden - hatte ihn oft empfunden - und hasste sich jetzt dafür, dass dieses Gefühl ausgerechnet in diesem Augenblick wieder in ihm hochkam. Aber zusätzliche Komplikationen waren das Letzte, was sie jetzt brauchten, verdammt noch mal. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Was?«
»Sieh dir ihr Handgelenk an«, sagte Tom.
Clay sah es sich an. Das schmuddelige Stück Schnürsenkel war noch da, aber der Turnschuh war fort. Er spürte ein absurd flaues Gefühl im Magen. Oder vielleicht war's doch nicht so absurd.
Wenn für Alice etwas wichtig war, dann war es eben wichtig. Und wenn es sich nur um einen Baby-Nike handelte.
Das zusätzliche T-Shirt und ein Sweatshirt, das sie eingepackt hatte (mit dem Aufdruck FÖRDERVEREIN GAITEN auf der Vorderseite), segelten durch die Luft. Batterien rollten davon. Ihre zusätzliche Taschenlampe knallte so auf die Fliesen, dass die Glas-halterung einen Sprung bekam. Das genügte, um Clay zu überzeugen. Hier lag kein Wutanfall a la Sharon Riddell vor, weil etwa der Haselnusskaffee oder die Chunky-Monkey-Eiscreme ausgegangen war; das hier war unverfälschtes Entsetzen.
Clay ging zu Alice, kniete bei ihr nieder und ergriff ihre Handgelenke. Er konnte spüren, wie die Minuten verflogen, die sie hätten nutzen sollen, um diese Stadt hinter sich zu lassen, aber er konnte auch spüren, wie hektisch ihr Puls unter seinen Fingern jagte. Und er konnte ihre Augen sehen. In ihnen stand jetzt nicht Panik, sondern Seelenqual, und er begriff, dass sie alles in diesen Turnschuh hineingelegt hatte: ihre Mutter und ihren Vater, ihre Freundinnen, Beth Nickerson und deren Tochter, das Inferno auf dem Tonney-Sportplatz, alles.
»Er ist nicht da!«, rief sie aus. »Ich dachte, ich hätte ihn eingepackt, aber das stimmt nicht! Ich kann ihn nirgends finden!«
»Ja, Schatz, ich weiß.« Clay hielt weiter ihre Handgelenke fest. Jetzt hob er das eine, um das noch der Schnürsenkel verknotet war. »Siehst du?« Er wartete, bis er sich sicher war, dass ihre Augen scharf gestellt waren, dann schnippte er mit dem Finger an die Enden unterhalb des Knotens, wo zuvor ein zweiter Knoten gewesen war.
»Die sind jetzt zu lang«, sagte sie. »So lang waren sie vorher nicht.«
Clay versuchte sich zu entsinnen, wann er den Turnschuh zuletzt gesehen hatte. Er sagte sich, das sei unmöglich, weil so viele Dinge auf ihn eingestürmt waren, aber dann merkte er, dass er sich doch erinnern konnte. Sehr gut sogar. Das war gewesen, als sie Tom geholfen hatte, ihn hochzuziehen, nachdem der zweite Tankwagen explodiert war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch am Schnürsenkel getanzt. Sie war mit Blut, Kleidungsfetzen und kleinen Fleischbrocken bedeckt gewesen, aber der Turnschuh hatte noch an ihrem Handgelenk gebaumelt. Er versuchte sich zu erinnern, ob er noch da gewesen war, als sie den brennenden Torso mit einem Fußtritt von der Rampe befördert hatte. Nein, irgendwie nicht. Vielleicht glaubte er das nur nachträglich, aber nein, irgendwie nicht.
»Er hat sich gelöst, Schatz«, sagte er. »Er hat sich gelöst und ist abgefallen.«
»Ich hab ihn verloren?« Ungläubigkeit in ihrem Blick. Die ersten Tränen. »Weißt du das auch bestimmt?«
»Ziemlich bestimmt,
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