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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Riddell, die in ihrer Doktorbluse und ihrem dunkelroten Rock in die Schule gefahren war, während ihr getrennt von ihr lebender Mann in Boston im Begriff war, einen Deal abzuschließen, der ihre Geldsorgen ein für alle Mal beenden und sie erkennen lassen würde, dass ihre ganze Nörgelei über sein »teures Hobby« eben doch nur Ängstlichkeit und Mangel an Vertrauen gewesen war (zumindest war das sein halbwegs übelnehmerischer Traum gewesen). Das dunkelblonde Haar hing in fettigen Strähnen herab. Im Gesicht hatte sie mehrere Schnittwunden, und eines der Ohren schien halb abgerissen worden zu sein; an seiner Stelle bohrte sich ein blutverkrustetes Loch in ihren Schädel. Etwas, was sie gegessen hatte, etwas Dunkles, klebte sämig in den Winkeln des Mundes, den er fast fünfzehn Jahre lang annähernd täglich geküsst hatte. Mit dem idiotischen Halbgrinsen, das die Phoner manchmal aufsetzten, starrte sie ihn an, durch ihn hindurch.
    »Clay, hilf mir!«, schluchzte Jordan.
    Clay gab sich einen Ruck. Sharon existierte nicht mehr, dessen musste er sich bewusst sein. Sharon existierte seit fast zwei Wochen nicht mehr. Nicht mehr, seit sie versucht hatte, am Tag des Pulses mit Johnnys kleinem rotem Handy zu telefonieren.
    »Lass mich durch, du Miststück«, sagte er und stieß die Frau weg, die einst seine Ehefrau gewesen war. Bevor sie zurückprallen konnte, glitt er an ihre Stelle. »Die Frau hier ist schwanger, also mach mir gefälligst etwas Platz.« Dann ging er in die Hocke, schlang sich Denise' anderen Arm über den Nacken und richtete sich mit ihr auf.
    »Geh nur weiter«, sagte Tom zu Jordan. »Lass mich vor, ich hab sie.«
    Jordan hielt Denise' Arm lange genug hoch, damit Tom ihn sich um den Nacken legen konnte. Auf diese Weise schleppten Clay und er sie die letzten achtzig Meter bis zum Eingang der Kashwakamak-Halle, wo der Lumpenmann stand und auf sie wartete. Unterwegs murmelte Denise, sie sollten sie loslassen, sie könne allein gehen, ihr fehle nichts, aber Tom dachte nicht daran, sie loszulassen. Auch Clay nicht. Hätte er sie losgelassen, hätte er sich womöglich nach Sharon umgesehen. Das wollte er nicht.
    Der Lumpenmann grinste Clay an, und diesmal schien sein Grinsen eindeutiger zu sein. Als gäbe es einen Witz, den nur sie beide kannten. Sharon?, fragte er sich. Ist Sharon der Witz?
    Anscheinend nicht, denn der Lumpenmann machte eine Geste, die Clay in der alten Welt sehr vertraut gewesen wäre, während sie hier schaurig fehl am Platz zu sein schien: rechte Hand an der rechten Gesichtshälfte, rechter Daumen am Ohr, kleiner Finger am Mund. Die Handy-Pantomime.
    »No-Fo-dich-dich«, sagte Denise, und dann fügte sie mit ihrer eigenen Stimme hinzu: »Lass das, ich kann's nicht leiden, wenn du das tust!«
    Der Lumpenmann achtete nicht auf sie. Er machte mit der rechten Hand weiter die Handy-Pantomime, Daumen am Ohr und kleiner Finger am Mund, und starrte dabei Clay an. Clay war sich einen Augenblick lang sicher, dass sein Blick auch die Hosentasche streifte, in der das Handy steckte. Dann sagte Denise wieder in einer schrecklichen Parodie seines alten Scherzes mit Johnny-Gee: »No-Fo-dich-dich.« Der Lumpenmann tat so, als würde er lachen, und sein ramponierter Mund entstellte dieses Lachen auf grausige Weise. Clay spürte die Blicke des Schwarms im Nacken wie ein physisches Gewicht.
    Dann gingen die beiden Türflügel der Kashwakamak-Halle wie von selbst auf, und auch wenn die herausströmenden vermischten Gerüche nur schwach waren - olfaktorische Gespenster früherer Jahre -, waren sie doch eine Wohltat, verglichen mit dem Gestank des Schwarms: Gewürze, Schinken, Heu und Vieh. Außerdem war die Halle nicht ganz finster; die batteriebetriebene Notbeleuchtung brannte zwar nur schwach, aber sie war noch nicht ausgefallen. Was Clay ziemlich erstaunlich fand, es sei denn, sie wäre eigens für ihre Ankunft aufgespart worden, was er jedoch bezweifelte. Der Lumpenmann verriet es ihnen nicht. Er lächelte nur und forderte sie mit Handbewegungen zum Eintreten auf.
    »Ist uns ein Vergnügen, du Missgeburt«, sagte Tom. »Denise, meinst du wirklich, dass du allein gehen kannst?«
    »Ja, ich muss nur erst noch eine Kleinigkeit erledigen.« Sie holte tief Luft und spuckte dem Lumpenmann dann ins Gesicht. »Da! Nimm das nach Hah-vud mit, du Arschgesicht!«
    Der Lumpenmann sagte nichts. Er grinste nur Clay an. Bloß zwei Kerle, die in einen geheimen Scherz eingeweiht waren.

6
    Niemand brachte ihnen Essen,

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