Puls
aber es standen hier reichlich Imbissautomaten, und Dan fand in der kleinen Werkstatt des Hausmeisters am Südende des riesigen Gebäudes ein Brecheisen. Die anderen standen im Kreis herum und sahen zu, wie er den Süßwarenautomaten aufstemmte - Natürlich sind wir verrückt , dachte Clay, wir essen Snickers zum Abendessen, und morgen gibt's Müsliriegel zum Frühstück -, als die Musik einsetzte. Und aus den großen Lautsprechersäulen am Rand der begrünten Freifläche kam nicht »You Light Up My Life« oder »Baby Elephant Walk«, diesmal nicht. Es war ein langsames, getragenes Stück, das Clay schon einmal gehört hatte, allerdings seit Jahren nicht mehr. Es erfüllte ihn mit Traurigkeit und bewirkte, dass er auf der weichen Innenseite beider Arme eine Gänsehaut bekam.
»Großer Gott«, sagte Dan leise. »Ich glaube, das ist Albinoni.«
»Nein«, sagte Tom, »das ist Pachelbel. Das ist der ›Kanon in D-Dur‹.«
»Natürlich, das ist er«, sagte Dan hörbar verlegen.
»Das klingt wie ...«, begann Denise, verstummte dann aber und betrachtete ihre Schuhspitzen.
»Was ist?«, fragte Clay. »Sprich weiter. Du bist unter Freunden.«
»Wie Musik gewordene Erinnerungen«, sagte sie. »Als hätten sie sonst keine.«
»Ja«, sagte Dan. »Ich vermute …«
»He, Leute!«, rief Jordan. Er sah aus einem der kleinen Fenster. Sie waren ziemlich hoch angebracht, aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er gerade so hinaussehen. »Das müsst ihr euch ansehen!«
Sie reihten sich nebeneinander auf und blickten auf das weite Freigelände hinaus. Die Lichtmasten und Lautsprechersäulen ragten wie schwarze Wächter vor dem düsteren Abendhimmel auf. Dahinter stand das Stahlgerüst des Fallschirmsprungturms mit seiner einzelnen roten Blinkleuchte. Und vor ihnen, unmittelbar vor ihnen, hatten sich tausende Phoner wie Moslems zum Gebet niedergekniet, während Johann Pachelbel die Luft mit etwas erfüllte, was ein Ersatz für Erinnerungen sein konnte. Und als sie sich hinlegten, streckten sie sich alle gleichzeitig aus und erzeugten dabei ein großes sanftes Rauschen und eine flatternde Luftverdrängung, die leere Tüten und zusammengedrückte Trinkbecher in die Luft wirbeln ließ.
»Zapfenstreich für die ganze hirngeschädigte Armee«, sagte Clay. »Wenn wir irgendwas tun wollen, muss es heute Nacht passieren.«
»Tun? Was sollen wir denn tun?«, sagte Tom. »Die beiden Türen, an denen ich gerüttelt habe, waren abgesperrt. Das sind die anderen sicher auch.«
Dan hielt das Brecheisen hoch.
»Wohl eher nicht«, sagte Clay. »Für Verkaufsautomaten mag das Ding ja geeignet sein, aber vergiss nicht, dass der Laden hier mal ein Spielkasino war.« Er zeigte aufs Nordende der Halle mit seinem luxuriösen Teppichboden und den langen Reihen einarmiger Banditen, deren Chrom im schwachen Licht der Notbeleuchtung matt glänzte. »Du wirst wahrscheinlich feststellen, dass die Türen brecheisenresistent sind.«
»Und die Fenster?«, sagte Dan, beantwortete die eigene Frage nach einem genaueren Blick aber selbst: »Jordan käme vielleicht durch.«
»Essen wir erst mal was«, sagte Clay. »Und dann setzen wir uns hin, schlage ich vor, und sind eine Zeit lang einfach nur still. Das haben wir schon länger nicht mehr gemacht.«
»Um was zu tun?«, fragte Denise.
»Also, ihr könnt tun, was ihr wollt, Leute«, sagte Clay. »Ich jedenfalls habe seit fast zwei Wochen nichts mehr gezeichnet, und das geht mir ab. Ich werde ein bisschen zeichnen.«
»Du hast aber kein Papier«, wandte Jordan ein.
Clay lächelte. »Wenn ich kein Papier habe, zeichne ich im Kopf.«
Jordan betrachtete ihn zweifelnd, während er zu erkennen versuchte, ob er auf den Arm genommen wurde oder nicht. Weil das anscheinend nicht der Fall war, sagte er: »Das ist aber längst nicht so gut, wie auf Papier zu zeichnen, stimmt's?«
»In mancher Beziehung ist es sogar besser. Statt zu radieren, denke ich einfach neu.«
Auf einmal war ein lautes Klirren zu hören, und die Tür des Süßwarenautomaten schwang auf. »Bingo!«, rief Dan aus und reckte triumphierend das Brecheisen hoch. »Wer behauptet denn, dass Collegeprofessoren im richtigen Leben nichts taugen.«
»Seht nur!«, sagte Denise gierig, ohne auf Dan zu achten. »Ein ganzes Fach Schokolinsen!« Sie machte sich darüber her.
»Clay?«, sagte Tom.
»Mhm?«
»Du hast nicht zufällig deinen kleinen Jungen gesehen, was? Oder deine Frau? Sandra?«
»Sharon«, sagte Clay. »Ich habe keinen
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