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Puls

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Titel: Puls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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den Kürbisesser hinweg, als wäre er völlig unwichtig, dann ging sie mit großen Schritten an ihm vorbei zu dem Beet mit den letzten Gurken. Dort ließ sie sich auf die Knie nieder, riss eine Gurke von ihrer Ranke ab und begann schmatzend zu kauen. Der Alte in dem GRAY POWER-Hemd marschierte bis zum Rand der Gemüsebeete und blieb zunächst einfach stehen wie ein Roboter, dem schließlich der Saft ausgegangen war. Er trug eine winzige goldgeränderte Brille - eine Lesebrille, vermutete Clay -, die im ersten Tageslicht glitzerte. Clay fand, dass er wie jemand aussah, der früher sehr klug gewesen und jetzt sehr dumm war.
    Die drei Menschen in der Küche drängten sich zusammen, starrten aus dem Fenster und wagten kaum zu atmen.
    Der Blick des alten Mannes ruhte jetzt auf George, der ein Stück Schale wegwarf, den Rest begutachtete, den Kopf wieder in den Kürbis steckte und sein Frühstück fortsetzte. Weit davon entfernt, sich den Neuankömmlingen gegenüber aggressiv zu verhalten, schien er sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
    Der alte Mann humpelte vorwärts und begann an einem Kürbis von der Größe eines Fußballs zu zerren. Dabei war er keinen Meter von George entfernt. Clay, der sich an den erbitterten Kampf vor der U-Bahn-Station erinnerte, hielt den Atem an und wartete.
    Er spürte Alice' Hand auf seinem Arm. Alle Bettwärme hatte sich aus ihrer Hand verflüchtigt. »Was wird er tun?«, fragte sie mit leiser Stimme.
    Clay schüttelte nur den Kopf.
    Der Alte versuchte in den Kürbis zu beißen, stieß sich dabei aber nur die Nase an. Das hätte komisch sein müssen, war es aber nicht. Ihm war dabei die Brille verrutscht, und er rückte sie wieder zurecht. Diese Bewegung wirkte so normal, dass Clay einen Augenblick lang fast davon überzeugt war, er sei hier der Verrückte.
    »Guum!«, schrie die Frau mit der zerrissenen Bluse und warf ihre halb aufgegessene Gurke weg. Sie entdeckte ein paar spätreifende Tomaten und kroch darauf zu, wobei ihr die Haare ins Gesicht hingen. Der Gesäßbereich ihrer grauen Hose war stark verschmutzt.
    Inzwischen hatte der alte Mann den zur Dekoration aufgestellten Schubkarren erspäht. Er trat mit seinem Kürbis darauf zu, schien dann George zu bemerken, der daneben saß, und sah ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf an. George deutete mit einer orangerot verfärbten Hand auf den Schubkarren - eine Geste, die Clay schon tausendmal gesehen hatte.
    »Bitte sehr«, murmelte McCourt. »Der Teufel soll mich holen.«
    Der alte Mann sank im Garten auf die Knie, eine Bewegung, bei der er offenbar starke Schmerzen hatte. Er schnitt eine Grimasse, hob sein runzliges Gesicht dem heller werdenden Himmel entgegen und stieß ein keuchendes Grunzen aus. Dann hielt er den Kürbis über das Rad. Während sein altersschwacher Bizeps zitterte, studierte er einige Sekunden lang die Falllinie, ließ den Kürbis dann aufs Rad hinabsausen und schlug ihn auf. Die Frucht zerfiel in zwei fleischige Hälften. Was dann folgte, ereignete sich blitzschnell. George ließ seinen weitgehend verzehrten Kürbis in seinen Schoß fallen, schaukelte nach vorn, packte den Kopf des Alten mit seinen orangerot verfärbten Pranken und ruckte daran. Das Knacken, mit dem das Genick des alten Mannes brach, war sogar durch die Fensterscheibe zu hören. Sein langes weißes Haar flatterte. Seine kleine Brille verschwand zwischen Pflanzen, die Clay für Rote Bete hielt. Sein Körper zuckte noch einmal, dann wurde er schlaff. George ließ ihn achtlos fallen. Alice begann zu schreien, aber McCourt hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. Ihre Augen, die vor Entsetzen aus den Höhlen zu quellen drohten, starrten über seine Hand hinweg. Draußen im Garten hob George ein neues Kürbisstück auf und aß seelenruhig weiter.
    Die Frau mit der zerrissenen Bluse sah sich ohne sonderliches Interesse kurz um, dann pflückte sie eine weitere Tomate ab und biss hinein. Roter Saft lief ihr übers Kinn und sickerte die schmutzigen Linien ihres Halses entlang. Als George und sie Gemüse essend in Tom McCourts Garten saßen, fühlte Clay sich aus irgendeinem Grund an eines seiner Lieblingsbilder erinnert: Das friedliche Königreich.
    Dass er laut gesprochen hatte, merkte er erst, als McCourt ihn düster ansah und dabei sagte: »Jetzt nicht mehr.«

13
    Fünf Minuten später standen die drei noch immer dort am Küchenfenster, als in einiger Entfernung eine Alarmanlage loszuplärren begann. Sie klang müde und heiser, als würde sie bald den Geist

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