Puls
aufgeben.
»Irgendeine Idee, was das sein könnte?«, fragte Clay. Im Garten hatte George sich von den Kürbissen abgewandt und eine große Kartoffel ausgegraben. Dadurch war er etwas näher an die Frau herangekommen, aber er zeigte kein Interesse an ihr. Zumindest fürs Erste noch nicht.
»Ich tippe darauf, dass im Safway im Stadtzentrum die Notstromversorgung ausgefallen ist«, sagte McCourt. »Wegen der vielen leicht verderblichen Waren dürfte's für diesen Fall eine batteriebetriebene Alarmanlage geben. Aber das ist nur eine Vermutung. Ebenso gut kann's die First Malden Bank oder ...«
»Seht nur!«, sagte Alice.
Die Frau, die eben noch eine Tomate hatte pflücken wollen, richtete sich auf und ging zur Ostseite des Hauses. George stand auf, als sie an ihm vorbeiging, und Clay rechnete schon fest damit, dass er ihr wie dem alten Mann das Genick brach. Er zuckte im Voraus zusammen und sah, wie McCourt eine Hand ausstreckte, um Alice vom Fenster wegzuziehen. Aber George folgte der Frau nur und verschwand hinter ihr hergehend um die Hausecke.
Alice machte kehrt und hastete zur Küchentür.
»Pass auf, dass sie dich nicht sehen!«, rief McCourt mit leiser, drängender Stimme und folgte ihr.
»Keine Sorge«, sagte sie.
Clay folgte ihnen und machte sich Sorgen um sie alle.
Sie erreichten die Esszimmertür gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie die Frau in dem schmutzigen Hosenanzug und George in seinem noch schmutzigeren Overall vor dem Fenster vorbeigingen, wobei ihre Körper durch die Lamellen der herabgelassenen, aber nicht ganz geschlossenen Jalousie in Segmente unterteilt wurden. Keiner der beiden sah zum Haus herüber, und George folgte der Frau nun so dichtauf, dass er sie in den Nacken hätte beißen können. Mit den beiden Männern hinter sich tappte Alice den Flur entlang zu McCourts kleinem Arbeitszimmer. Hier war die Lamellenjalousie ganz geschlossen, aber Clay sah die projezierten Schatten der beiden draußen Vorbeigehenden trotzdem über sie hinweghuschen. Alice lief auf dem Gang zu der offen stehenden Tür weiter, die auf die verglaste Veranda hinausführte. Die Steppdecke lag halb auf der Couch, halb auf dem Fußboden, so wie Clay sie zurückgelassen hatte. Die Veranda war von blendend hellem Morgensonnenschein überflutet. Er schien auf dem Holzfußboden zu brennen.
»Vorsichtig, Alice!«, sagte Clay. »Lass ...«
Aber sie war stehen geblieben. Sie sah nur nach draußen. Dann stand McCourt, fast genau gleich groß wie sie, neben ihr. Aus dieser Perspektive hätten sie Geschwister sein können. Keiner der beiden gab sich irgendwelche Mühe, nicht gesehen zu werden.
»Heiliger gottverdammter Scheiß«, sagte McCourt. Es klang, als hätte ihm ein Magenhieb den Atem genommen. Alice neben ihm begann zu weinen. Es war ein atemloses Weinen, wie man es von einem übermüdeten Kind hätte hören können. Oder von einem, das sich allmählich daran gewöhnt, viel einstecken zu müssen.
Clay trat zu den beiden. Die Frau in dem Hosenanzug überquerte gerade McCourts Rasen. George folgte ihr weiter dichtauf, hielt exakt mit ihr Schritt. Die beiden bewegten sich fast im Gleichschritt. Das änderte sich erst am Randstein, als George links neben ihr ausscherte und so vom Hintermann zu ihrem Flügelmann wurde.
Die Salem Street war voller Verrückter.
Auf den ersten Blick schätzte Clay ihre Zahl auf tausend oder mehr. Dann setzte seine Beobachtungsgabe ein - der kaltherzige Künstlerblick-, und er erkannte, dass diese Schätzung weit überhöht war. Was wohl daran lag, dass er überrascht war, überhaupt jemanden auf der Straße zu sehen, die er leer zu sehen erwartet hatte, und an der schockierenden Erkenntnis, dass sie alle zu denen gehörten. Die geistlosen Gesichter, die leeren Blicke, die schmutzige, blutige, unordentliche Kleidung (die bei manchen gänzlich fehlte), der gelegentliche krächzende Schrei oder die ruckartigen Bewegungen waren unmöglich zu verkennen. Beispielsweise sah er einen Mann, der nur einen engen weißen Slip und ein Polohemd trug und immer wieder zu salutieren schien; eine dickliche Frau, deren Unterlippe gespalten war und in zwei fleischigen Lappen herabhing, wodurch alle ihre unteren Zähne freigelegt wurden; einen hoch aufgeschossenen Teenager in Jeans, der mit etwas in der Hand, was wie ein blutverkrustetes Montiereisen aussah, dem Mittelstrich der Salem Street folgte; einen indischen oder pakistanischen Gentleman, der an Toms Haus vorbeigehend die Kinnlade von Seite zu
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