Puls
begriff, wo er war oder was sich ereignete. Im einen Augenblick war er ein kleiner Junge, der in Ohio unter einem Bingotisch kauerte; im nächsten wälzte er sich von der bequem langen Couch auf Tom McCourts geschlossener Veranda, die Steppdecke noch um die Beine gewickelt. Und irgendwo im Haus schrie Alice Maxwell - die in einer Tonlage kreischte, die fast Kristallglas hätte zerspringen lassen können - all die Schrecken des eben vergangenen Tages hinaus und bestand mit einem Schrei nach dem anderen darauf, dass solche Dinge unmöglich geschehen konnten und geleugnet werden mussten.
Clay bemühte sich, die Beine aus der Steppdecke zu befreien, was ihm aber nicht gleich gelang. Stattdessen hopste er zur inneren Tür und zerrte in einer Art Panik daran, während er auf die Salem Street hinausstarrte. Obwohl er wusste, dass der Strom ausgefallen war, erwartete er, dass in der ganzen Straße gleich die Lichter aufflammten, dass irgendjemand - vielleicht Mr. Nicker-son, der Waffennarr und Technikfreak von schräg gegenüber - aus seinem Haus trat und brüllte, irgendjemand solle um Himmels willen diese Göre abstellen. Zwingt mich nicht dazu, rüberzukommen!, würde Arnie Nickerson brüllen. Zwingt mich nicht dazu, rüberzukommen und sie zu erschießen!
Oder ihre Schreie lockten die Handy-Verrückten an, wie eine Insektenlampe Nachtfalter anlockte. Tom mochte glauben, sie seien tot, aber daran glaubte Clay nicht mehr als an die Werkstatt des Weihnachtsmanns am Nordpol.
Aber die Salem Street - zumindest der Teil unmittelbar westlich des Stadtzentrums und unterhalb des Viertels von Malden, das Tom als Granada Highlands bezeichnet hatte - blieb dunkel und unbelebt. Selbst der Feuerschein über Revere schien schwächer geworden zu sein.
Clay konnte sich schließlich von der Steppdecke befreien, tappte ins Haus, blieb unten an der Treppe stehen und blickte ins nachtschwarze Dunkel hinauf. Jetzt konnte er McCourts Stimme hören - nicht die Worte, aber den Tonfall: leise und ruhig und besänftigend. Das erschreckende Gekreisch des Mädchens wurde jetzt durch Pausen unterbrochen, in denen sie nach Luft schnappte, dann durch Schluchzer und unverständliche Schreie, die zu Worten wurden. Clay schnappte eines davon auf: Albtraum. Toms Stimme sprach unablässig weiter, und er erzählte in beruhigend leierndem Ton allerhand Lügen: Alles sei in Ordnung, sie werde schon sehen, morgens werde alles besser aussehen. Clay konnte sich vorstellen, wie sie nebeneinander auf dem Bett im Gästezimmer saßen, beide in Pyjamas mit dem Monogramm TM auf der Brusttasche. So hätte er sie zeichnen können. Die Vorstellung ließ ihn lächeln.
Als er der Überzeugung war, dass Alice nicht wieder zu kreischen anfangen würde, ging er auf die Veranda zurück, auf der es ein wenig kühl, aber nicht unbehaglich war, sobald er sich wieder eng in die Steppdecke gewickelt hatte. Er saß auf der Couch und betrachtete den Teil der Straße, den er von dort aus einsehen konnte. Links vor ihm, östlich von McCourts Haus, lag ein Geschäftsbezirk. Er glaubte die Verkehrsampel erkennen zu können, die die Einfahrt zum Stadtplatz bezeichnete. Auf der anderen Seite - aus dieser Richtung waren sie gekommen - weitere Häuser. Alle wirkten in dieser stockfinsteren Nacht still und verlassen.
»Wo seid ihr?«, murmelte er. »Ein paar von euch waren nach Norden oder Westen unterwegs, und die waren noch bei Verstand. Aber wohin zum Teufel seid ihr anderen alle verschwunden?«
Keine Antwort von der Straße. Scheiße, vielleicht hatte Tom ja Recht - die Handys hatten ihnen den Befehl übermittelt, um drei Uhr durchzudrehen und um acht Uhr tot umzufallen. Das klang zwar zu gut, um wahr zu sein, aber er erinnerte sich, dass er über wiederbeschreibbare CDs einmal genauso gedacht hatte.
Stille auf der Straße vor ihm; Stille in dem Haus hinter ihm. Nach einiger Zeit lehnte Clay sich auf der Couch zurück und ließ zu, dass seine Augen sich schlossen. Er dachte, er würde dösen, bezweifelte aber, dass er tatsächlich wieder einschlafen würde. Irgendwann schlief er aber doch wieder ein, und diesmal träumte er nicht. Einmal, kurz vor Tagesanbruch, kam ein Mischlingshund auf dem Weg durch Tom McCourts Vorgarten herauf, betrachtete Clay, der in seinem Steppdeckenkokon schnarchte, und lief dann weiter. Der Hund hatte keine Eile; an diesem Morgen gab es in Malden reiche Beute, und so würde es in nächster Zeit auch bleiben.
12
»Clay, aufwachen!«
Eine Hand, die ihn
Weitere Kostenlose Bücher