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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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erzählen zu können. Man kannte sich nur vom Sehen, grüßte sich, so wie es sich gehörte, und kam über kurze Gespräche, die sich meist um das Wetter drehten, nicht hinaus. Nein, aufgefallen war ihr in letzter Zeit auch nichts. Die Menschen lebten nebeneinander, übereinander und wussten nichts Wesentliches voneinander.
    Schielin fragte sich, was Frau Haack wohl zu der Wohnung von Ottmar Kinker gesagt hätte. Und wie hätte der auf dieses heimelige, glückliche Zuhause von Frau Haack reagiert, die nur eine Armlänge von ihm entfernt lebte und doch in einer anderen Welt zu Hause war.
    Schielin hatte sich bereits wieder verabschiedet, stand im Gang und wollte gerade die Türe öffnen, da sprach sie ihn zögernd an. »Vielleicht ist mir doch etwas aufgefallen in letzter Zeit.«
    Er drehte sich um.
    »Na ja. Also ich habe Herrn Kinker in den letzten Wochen eigentlich gar nicht mehr so oft gesehen, wenn ich mich recht besinne. Seit Weihnachten eigentlich nicht mehr. Das letzte Mal war das Anfang letzter Woche, und da ist er mir wegen seiner Kleidung aufgefallen.«
    »Wegen seiner Kleidung?«
    »Ja«, sie lächelte etwas verlegen, »er war ja nicht sonderlich aktuell, was seine Kleidung anging.«
    Schielin nickte auffordernd.
    »Also, er hatte einen völlig neuen Stil. Er trug Jeans, Sweatshirts, ansehnliche Hemden und Jacken, und nicht mehr diese grauen Hosen und alten Mäntel. Also das ist mir schon aufgefallen.«
    Schielin lächelt sie an. »Er hatte also seinen Stil geändert?«
    »Ja, irgendwie schon. Ich denke nicht, dass man seinen Kleidungsstil so einfach ändert, ohne Anlass. Ach ja … und das Klingelschild noch …«
    »Klingelschild?«
    »Ja, unten am Eingang. Irgendwann nach Weihnachten war es plötzlich neu. Vorher war da so ein … ach, ich bin da wohl etwas penibel, und es ist auch völliger Unsinn, den ich da erzähle.« Sie winkte ab. Schielin ermunterte sie weiterzusprechen. »Also bis Weihnachten etwa, hatte Herr Kinker auch so einen vergilbten Lappen, wie er in der Klingel seiner Mutter und Schwester steckt.«
    »Der ist mir auch aufgefallen. Schaut etwas lieblos aus.«
    »Ja … lieblos«, entgegnete Frau Haack und sah ihn ernst an.
    *
    An der Wohnung gegenüber hatte er kein Glück. Niemand öffnete auf sein Klingeln, und so ging er die Stufen langsam nach unten und wartete vor Ottmar Kinkers Tür auf seine Kollegin, die noch in der Wohnung gegenüber sein musste.
    Dort saß sie Fräulein Seidl gegenüber, einer Dame um die neunzig, die gleich nach der Begrüßung klargemacht hatte, dass sie mit Fräulein angesprochen werden wollte.
    Die Wohnung von Fräulein Seidl glich einer Antiquitätenhandlung. Der Boden im Gang und in den Zimmern, soweit halb geöffnete Türen Einblick gewährten, war übersät von Kisten, aus denen alte Magazine, Bildbände, Tücher und allerlei Accessoires quollen. Überall türmten sich Stapel aus Büchern, Bilderrahmen, Fotos, alten Zeitungen und Holzkästchen. Es war kaum Platz vorhanden, den Stuhl vom ovalen Kirschholztisch, der das Wohnzimmer beherrschte, wegzurücken.
    Aber das Mobiliar war vom Feinsten. Alte englische Sideboards, Vitrinen, Stühle, Tischchen, Schränke, Lampen, Vasen. Es war ein Dschungel aus Holz, Glas, Ge- und Bedrucktem, alten Wälzern, Atlanten und Lexika, Lithografien und Gemälden, dazwischen Fotografien, die Männer in Uniform zeigten, die Hand in pathetischer Pose am Säbel und böse in den Raum blickend.
    Lydia überlegte, ob einmal die Zeit kommen würde, dass unsere Nachfahren es als ähnlich lächerlich empfanden, Gesichter von Menschen zu betrachten, die versuchten, entspannt von einer Fotografie zu lächeln.
    Während sie sich setzte, sah sie sich noch einmal genussvoll um. Es roch nach Altem, nach vergangener Zeit, nach Geschichten und Geschichte, es roch so, wie es im Haus ihrer Großmutter gerochen hatte. Und durch die schmalen Pfade dieser Anhäufung aus Schwemmstücken vergangener Epochen bahnte sich als letztes lebendes Überbleibsel Fräulein Seidl selbst ihren Weg, stolz und nicht weniger pathetisch wie die Männer auf den Fotos – war sie es doch, die über den Code verfügte, der den Treibstücken der Geschichte ihre Geschichte zuweisen konnte.
    Ihr Verhalten war höflich-resolut. Sie fragte Lydia Naber erst gar nicht, ob sie etwas trinken wollte, sondern holte aus einer der Vitrinen Untertasse und Tasse, auf welchen in leuchtenden Farben gelbe Rosen prangten, entnahm einer der vielen Schubladen einen silbernen Löffel und

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