Pulverturm
stellte das Ganze auf den Tisch. Während sie in die Küche ging, hob Lydia Naber – einer ihrer Unarten treu – den Unterteller und inspizierte den Herstellerstempel und fand sofort die zwei gekreuzten blauen Säbel. Vorsichtig und voller Ehrfurcht stellte sie das Meißener wieder auf den Tisch zurück und wartete auf Fräulein Seidl, die ihr ungefragt Tee einschenkte und dabei wie zu sich selbst die Worte »Earl Grey« sprach.
Lydia Naber entgegnete nichts und verbannte Conrad Schielin, der ihr gerade in den Sinn gekommen war, aus ihren Gedanken. Er musste eben eine Weile warten, denn das hier konnte länger dauern. Fräulein Seidl verhielt sich zwar äußerst distanziert und nahm eher die Haltung einer Dame ein, die Audienz gewährte, als den Eindruck entstehen zu lassen, überraschend Gastgeberin geworden zu sein. Beiden Beteiligten war jedoch auf seltsame Weise klar, dass ihnen das unerwartete Zusammentreffen Freude bereitete, die jede auf ihre Weise verborgen hielt.
Lydia erläuterte noch vor dem ersten Schluck Tee mit einer kurzen, klaren Schilderung des Geschehenen den Grund für ihre Anwesenheit. Die Nachricht rief bei Fräulein Seidl keinerlei Erschrecken hervor. Sie saß aufrecht auf ihrem gepolsterten Stuhl, nahm einen Schluck Tee, stellte die Tasse zurück und fragte etwas unwirsch und ohne auf den Tod von Ottmar Kinker einzugehen: »Sind Sie eigentlich Waffenträgerin?«
Mit keinem Wort, keiner Gemütsäußerung ging sie darauf ein, dass einer ihrer Mitbewohner im Haus ermordet worden war. Stattdessen interessierte sie sich für die Waffe von Lydia Naber. Der verschlug es für einen kurzen Augenblick die Sprache, denn mit einer solchen Frage, ja mit solch einer Formulierung – Waffenträgerin – war sie noch nie konfrontiert worden. Sie nickte daher stumm und nahm ihrerseits einen Schluck Tee.
Fräulein Seidl schien zufrieden und sah sich nun, da ihr eine Waffenträgerin gegenübersaß, auch in der Lage, auf Lydia Nabers Mitteilung einzugehen.
»Das ist sehr schade, das mit Herrn Kinker. Er … war ein anständiger Mensch.« Sie ließ nach dem er eine Pause entstehen, wodurch der Satz eine zweite Botschaft vermittelte.
»Haben Sie Herrn Kinker öfter getroffen, hier im Haus?«
»Nein. Nur sehr selten und in den letzten Monaten eigentlich gar nicht. Wissen Sie, ich muss in der kalten Jahreszeit schon etwas aufpassen … ich gehe, wenn es glatt und kalt ist, nur ungern vor die Tür, und nur wenn es unbedingt sein muss außer Haus. Bewegung kann ich mir hier in der Wohnung auch verschaffen«, sie setzte eine verächtliche Miene auf, »und denen ist ja jeder Pfennig zu schade.«
Lydia Naber verstand nicht. »Wem ist jeder Pfennig zu schade?«
Fräulein Seidl winkte ab. »Na. Die lassen hier doch nicht Schnee räumen, so wie es sich gehörte. Und Salz streuen sie auch nicht im erforderlichen Maße. Unmöglich, das! Aber das ist der Hunger, wissen Sie, das ist der Hunger, die Gier.« Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um, als suche sie Trost, wendete sich dann mit ernstem Ausdruck Lydia zu und sagte flüsternd, mit ernster Stimme: »Der Geiz ist ein Strang der Seel, und alles Bösen Königin!«
Lydia Naber sah sie fast erschrocken an, und tatsächlich lief ihr ein kleiner Schauder über den Rücken. Sie fand die Aussage reichlich kryptisch und versuchte, nachdem sie die Worte für sich noch einmal wiederholt hatte, den Weg zu Ottmar Kinker wieder einzuschlagen. »Ja. Das mit den Hausverwaltungen ist so eine Sache. Da liegt vieles im Argen. Was ist denn mit den anderen Bewohnern hier. Hat sich Herr Kinker denn nicht vielleicht beschwert. Seine Mutter ist ja nun auch nicht mehr die Jüngste und rutscht sicher auch nicht gern auf Schnee- und Eisplatten herum. Und … wie war er denn so, eher ein Stiller?«
Fräulein Seidl sah Lydia Naber erstaunt an. »Ach. Sie sind da noch gar nicht informiert, oder?«
»Worüber informiert?«
»Das ist sein Haus. Ich meine, es ist sein Haus gewesen, das von Herrn Kinker.«
»Wie meinen Sie das?«
Fräulein Seidl reagierte etwas entrüstet. »Na wie soll ich das meinen. Rede ich wirres Zeug oder Unsinn, junge Frau. Dieses Haus hier gehört Herrn Kinker und wohl auch seiner Schwester. Ob und inwieweit Frau Kinker, also seine Mutter, beteiligt ist, weiß ich nicht. Aber Herr Kinker war der Eigentümer, und seine Schwester ist für die Hausverwaltung zuständig. Sie kann das natürlich nicht, denn so helle ist sie nicht, das darf man schon sagen. Aber sie hat
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