Pulverturm
darüber, zu den Menschen zu gehören, die nie eine Wahl hatten.
Die Ermittlungen
Entgegen aller Erwartungen hatte die sternklare, kühle Nacht den Anflug von Wärme nicht beseitigen können. Conrad Schielin hatte den Abend in der Küche verbracht. Zusammen mit seinem Nachbarn Albin Derdes, der beabsichtigt zufällig vorbeigekommen war, sich nach Ronsard erkundigt hatte und sehr geduldig bei ihnen am Tisch saß. Die Nachricht von dem Toten, den man am Pulverturm gefunden hatte, war wie der warme Frühlingswind von der Insel aus zum Festland hinübergeflogen und in jeden Winkel gekrochen, schon weit über Motzach hinaus, und hatte natürlich auch Schielins Nachbarn erreicht.
Es war ein Segen, Albin Derdes zum Nachbarn zu haben, und er war im Allgemeinen weit über das Maß hinaus gut informiert, jedenfalls in höherem Maße, als es durch das alleinige Lesen der Lindauer Zeitung hätte bewirkt werden können. Und das lag daran, dass er in erträglicher Weise neugierig war und immer Witterung hielt in den Wind der Neuigkeiten und den Brisen von Tratsch und Gerüchten.
Trotz vieler, nicht unintelligenter, aber doch scheinheiliger Nachfragen, wie es Schielin denn so in der Arbeit ergehe und ob es sonst etwas Neues gäbe, erfuhr er – nichts. Schielin überlegte eine Weile, ob er nicht vielleicht doch etwas erzählen sollte, denn das Leben war ein Geben und Nehmen – und sein Nachbar war ein wandelnder Gotha der Lindauer Familiengeschichten. Aber es war noch zu früh. Die Pressemeldung mit den detaillierten Informationen würde erst am nächsten Tag erscheinen, und außerdem war Schielin zu müde. Aus diesem Grund musste Albin Derdes warten.
Trotzdem wankte er nicht unzufrieden die paar Meter nach Hause, denn Marja hatte ihm jede Menge Heidis gegönnt. Von der Reise zu ihrer Familie hatte sie von ihrem Bruder wieder ausreichend Maienbacher Birnenbrand mitgebracht.
Schielin war nach Dienst nicht sofort nach Hause gefahren, sondern hatte die Zeit bis zum Ende der Dämmerung auf der Bank am Pulverturm verbracht. Leider hatte sie keine Lehne. Er konnte beobachten wie es um ihn herum immer dunkler und einsamer wurde. Trotz des sonnenklaren Tages brannten in den Büros der Südfront der ehemaligen Luitpold-Kaserne Lichter, die nun, da der normale Büroalltag sein Ende erfuhr, eines nach dem anderen erlosch. Bald war nur noch vorne an der Bodenseeklinik Licht zu erkennen.
Er ging zurück zur Klinik und sah von dort in Richtung Ufermauer. Außer einer verschlingenden Schwärze war nichts zu erkennen. Lediglich die gelungenen Proportionen des Pulverturms hoben sich vom düsteren Blauschwarz des Himmels ab, an welchem nun auch die blaue Stunde erlosch. Die ersten Sterne leuchteten schon, und alles verschwand im lichtlosen Schatten alter Mauern, bizarr sich reckender Baumäste und dem Klang des Sees. Schlechte Voraussetzungen für brauchbare Zeugenaussagen.
*
Trotz der Fülle an Fragen, die ihn beschäftigten, schlief er in der Nacht tief und fest, und der helle Morgen, der einen sonnig-warmen Frühlingstag verhieß, zog ihn aus unerfindlichem Grund wieder auf die Insel. Er ordnete sich in die Wagenkolonne ein, die ohne Eile über die Seebrücke hin, dem Kreisverkehr zurollte. Die Bäume, gleich am Inselufer, waren auch hier noch unbelaubt und erhoben sich weit über die schmalen Häuser. Hinter dem scheinbar wirren Netz aus Ästen und Zweigen schienen die Türme von St. Stephan und der Stiftskirche durch, und verliehen den an sich unspektakulären Wallanlagen einen Schuss Monumentalität.
Schielin war hier aufgewachsen, mit allem vertraut, und doch war es immer etwas Besonderes, auf die Insel zu fahren. Dieser eigentlich banale Weg über die Seebrücke bedeutete mehr als nur die Bewältigung einer Strecke, die einen von einem Ort zum anderen brachte. Denn entscheidend für das Zurücklegen einer Wegstrecke ist doch immer, welches Ziel, sofern es eines gibt, erreicht werden soll. Und in diesem Fall war das Ziel eine Insel; eine kleine zwar, aber eine Insel. Und so nahe das Festland auch sein mochte, auf der Insel Lindau existierte eine andere Welt und sie genügte sich zudem selbst – es war eine kleine Welt für sich, ein sozialer Mikrokosmos. Hier bestimmte ein anderer Rhythmus den Alltag, zu den Jahreszeiten gesellten sich die Urlaubszeiten, die hier intensiver wirkten – und es gab eigene Geräusche, Gerüche und sogar ein eigenes Klima.
Das alles war dazu angetan, denjenigen, die auf der Insel ihre Heimat
Weitere Kostenlose Bücher