Pulverturm
hatte. Sie nannte das Zimmer Musikzimmer, weil hier überwiegend alte Partituren versteckt waren. Es wusste ja keiner, dass wertvolle Autografen von Richard Strauss und Carl-Maria von Weber darunter waren. Wer kannte heute schon noch Richard Strauss? Vermutlich dachten viele an Walzer, wenn sie den Namen hörten. Und dabei redeten sie im Fernsehen und Radio immer von Bildung und einer Politik, die damit in Verbindung stehen sollte.
Sie kontrollierte die Raumtemperatur, danach die Luftfeuchtigkeit und kramte, da die Werte als zufriedenstellend erachtet werden konnten und kein Eingreifen erforderten, in einem Karton, der mit chinesischen Mäandermustern verziert war. Ihre knochigen Finger holten zwischen losen Blättern, alten Briefen und Fotos ein farbstichiges, verblasstes Foto hervor. Es zeigte einen Mann mit Hut. Sie setzte sich auf einen Hocker und betrachtete das Bild. Sie musste sich revidieren – Erinnerungen verloren nie ihren Wert, vielleicht änderte sich nur ihre Bedeutung.
Im Verlauf des Tages war es immer wärmer geworden und nun, die Sonne stand schon tief, wehte ein lauer Wind über den See, stieg am Pulverturm an Land, glitt über die Geleise und eroberte die Stadt.
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In der Maximilianstraße war der Hauch der neuen Jahreszeit zuerst zu spüren. Wer von ihm erfasst war, verharrte einen Augenblick, spürte eine tiefe, wohlige Wärme an den Händen, am Hals, an den Beinen, und schließlich am ganzen Körper. Die erste durchdringende Wärme in diesem Jahr. Die Schritte wurden langsamer, die Haltung entspannter, und wer die Zeit hatte, verweilte nun länger vor den Schaufenstern oder beim Gespräch.
Doch eines fehlte noch, denn es war nur ein warmer Wind, und um das Frühjahr mit allen Sinnen erfassbar zu machen, fehlte es noch an den süßen, wohlbekannten Düften. Noch warteten Blätter und Blüten in scheinbar abgesprochener Vorsicht, doch schon in wenigen Tagen würden sich die weißen Schneefelder der fernen Berge in einem weißen Blütenmeer widerspiegeln. Frühjahr am Bodensee wirkte auf die Seele wie ein genussvolles Bad in Leben spendendem Elixier auf den Körper.
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Dr. Deeke öffnete ein Fenster seines Büros, schloss die Augen und genoss, wie die warme Brise sein Gesicht entspannte. Er vermied den Blick hinüber zum Pulverturm.
Schielin und Lydia Naber stiegen gerade aus dem Passat und gingen zur Dienststelle, als sie in den warmen Taumel gerieten. Schielin blieb stehen und drehte sich um, so als gelte es, die Quelle der plötzlichen Wärme zu entdecken.
Fräulein Seidl steckte das Foto, das einen Mann mit Hut zeigte, von außen in einen Bilderrahmen, und nur wenige Meter entfernt, und doch durch ein ganzes Universum getrennt, saß Meta Kinker noch immer starr am Tisch, ihre Tochter klapperte in der Küche, und beide bekamen von dem, was über den See und die Stadt kam, nichts mit. Sie wurden aufgeschreckt, als sich die Tür ihrer Wohnung öffnete, ohne dass es zuvor geklingelt hätte. Meta Kinkers Gesichtszüge wurden etwas weicher, als sie am Klang der Schritte erkannte, dass es Waldemar Kunze war, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester. Er kümmerte sich um alles und war, wie schon immer, eine große Hilfe. Er sprach kein Wort, kam zu ihr ins Zimmer und setzte sich ihr gegenüber. Sie sah zum Fenster hinaus, und er glotzte auf das vergilbte Kalenderbild. Sie verstanden einander.
In Bregenz eilte eine Frau von der Bushaltestelle über die Straße hinweg zum Bahnhofsgebäude. In der Linken hielt sie einen Koffer, darüber war ein Mantel gelegt. Mit ihrer rechten Hand hielt sie Nadjas Handgelenk fest umklammert. Sie musste zweimal so viele Schritte machen, um ihrer Mutter zu folgen, die immer wieder »Komm. Komm schon« rief. Es klang verzweifelt und voller Furcht.
Ihren eiligen Schritten und der Bedingungslosigkeit, mit welcher sie Koffer und Kind an sich kettete, haftete etwas Gehetztes an, und es war nicht zu erkennen, ob die Ursache dieser getriebenen Eile darin bestand, von diesem Ort wegzukommen, oder mehr noch, einen neuen Ort zu erreichen.
Yulia Kavan bestieg zusammen mit Nadja den schweizerischen Zug nach München. Ihr Ziel aber war ihr ukrainischer Heimatort Belozerka. Die dunkle Sonnenbrille verdeckte ihr vom Weinen gerötetes Gesicht. Als sie, schon am Bahnsteig, den Hauch der unerwarteten Wärme im Gesicht und am Hals verspürte, wäre sie am liebsten stehen geblieben, hätte sich hingesetzt und gewartet.
Alles was sie tat, tat sie für ihr Kind. Sie war verzweifelt
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