Pulverturm
einen Narren an ihrem Cousin gefressen. Ich glaube, das ist der Einzige, zu dem sie engeren Kontakt hat. Der ist sozusagen der heimliche Verwalter. Auch so ein komischer Kerl, lebt alleine drüben in der Kemptener Straße. Es ist der Sohn von Meta Kinkers Schwester. Die war, glaube ich, nie verheiratet und ist auch schon einige Jahre unter der Erde.« Sie machte eine kurze Pause und fügte resolut hinzu: »Davon rede ich.«
»Mhm, das ganze Haus?«, wiederholte Lydia nachdenklich.
Fräulein Seidl nickte ernst. »Das ganze Haus«, dann lehnte sie sich ein Stück nach vorne und flüsterte über den Tisch: »und es ist nicht das einzige.«
Jetzt lehnte sich auch Lydia Naber ein Stück nach vorne und wiederholte verschwörerisch flüsternd: »Nicht das einzige?«
Fräulein Seidl schwieg, presste die schmalen Lippen aufeinander und überließ Lydia Naber ihren Gedanken.
Die konnte keinen klaren Gedanken zu dem gerade Gehörten fassen. Die Waffenträgerin kam ihr immer wieder dazwischen. Schließlich fragte sie: »Wie lange wohnen Sie schon hier im Haus?«
»Ich habe das Haus bezogen, als es neu errichtet worden war. Das ist nun auch schon wieder fast vierzig Jahre her.«
»Und die Familie Kinker hat dieses Haus gebaut?«
»Nein. Das nicht. Gottlieb Kinker, also der verstorbene Vater von Ottmar Kinker, der hat die Wohnung da drüben gekauft und die oben, also die von … sie wissen schon … gemietet. Und so über die Jahre haben die alle anderen Wohnungen erworben, wenn denn eine zum Verkauf stand.«
»Sie sagen die. Das klingt, als wäre das ein Familienunternehmen.«
»Ist es doch auch.«
»Mhm. Wissen Sie, woher das Geld stammt? So einfach kauft man ja nun nicht ein Haus zusammen, oder?«
Fräulein Seidl zuckte mit den Schultern und offenbarte dabei ungewollt eine Seite von sich, die sie sicher in ihrer Jugend als Eigenheit kennzeichnete – eine gewisse, nicht unsympathische, provokante Schnippigkeit. Sie sagte: »Keine Ahnung. Ein Erbe vielleicht, dazu eine geradezu kannibalische Sparsamkeit. Wissen Sie, ich habe mit der Familie Kinker keinen Kontakt, und ich würde lügen, sollte ich behaupten, es würde mich sonderlich betrüben. Es ist ja auch irgendwie schwierig mit denen … Sie waren doch sicher schon drüben, nicht wahr?«
Lydia nickte kaum merklich und schwieg. Sie wollte den Erzählfluss von Fräulein Seidl nicht unterbrechen.
»Mit Gottlieb Kinker, also dem Vater, mit dem habe ich mich oft und gerne unterhalten. Das war ein Mensch, der Kultur hatte, ins Theater ging und Konzerte besuchte. Er hat viel gelesen, und gesungen hat er, glaube ich, auch … im Liederhort war das wohl … er war ein so netter, höflicher Mensch. Und sein Sohn, der war ganz am Anfang auch so ein offenherziger Typ, ganz wie der Vater. Sehr musikalisch, wenn ich mich recht erinnere. Doch dann, als Gottlieb gestorben war …«, sie unterbrach kurz und sann nach, »das war schlimm, das war sehr schlimm … der Sohn ist dann sehr in den Einfluss der beiden da drüben geraten. Das war nicht gut für ihn.« Sie stöhnte im Rückblick auf die Jahre und das, was in ihnen geworden war.
Lydia Naber hatte sehr wohl registriert, wie selbstverständlich sie das eine Mal Gottlieb gesagt hatte. Fürs Erste hatte sie genügend Informationen erhalten. Sogar mehr, als sie erwartet hatte. Es fiel ihr schwer, sich zu verabschieden, denn sie fühlte sich in diesem belebten Museum sehr wohl, und das etwas spröde Fräulein Seidl war ihr äußerst sympathisch. Sie sah sich noch einmal im Raum um.
»Ich werde mich von diesem ganzen Zeug hier trennen«, sagte Fräulein Seidl plötzlich, »ich werde ins Heim gehen.«
»Ins Heim?«, fragte Lydia Naber überrascht nach.
»Ja. Ins Maria-Marthastift. Ich habe mich da schon umgesehen, und hier will ich nun, nach der Nachricht, die sie mir überbracht haben, auf gar keinen Fall länger bleiben. Ist eh schon zu lange. Wenn sie jemanden kennen, der mit dem Zeug hier was anfangen kann, dürfen sie mich das gerne wissen lassen. Ich hatte nun lange genug Zeit, mich von all dem Zeug zu verabschieden. Wissen Sie, wenn man so alt wird wie ich, dann haben auch Erinnerungen nicht mehr den Wert und die Bedeutung, welche man ihnen einige Jahre vorher noch zugemessen hat.«
*
Es war inzwischen später Nachmittag, als sich Schielin und Lydia Naber auf dem Weg zur Dienststelle befanden. Lydia schwieg und wartete darauf, dass ihr Kollege zuerst anfangen würde zu erzählen. Sie brannte darauf, ihm ihre
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