Pulverturm
fanden, eine eigene Aura zu geben. Und so waren es nicht nur Eitelkeit und der den Menschen eigene Wunsch nach Abgrenzung, wenn es innerhalb Lindaus die feine Unterscheidung zwischen Festländern, Insulaner und gebürtigem Insulaner gab. Wer zu Letzteren zählte, war zwar dafür nicht im öffentlichen Raum bekannt, in Gesprächen, Unterhaltungen und Diskussionen aber konnte die nebenbei eingebrachte Aussage, Insulaner zu sein, das Gewicht seiner Argumentation erhöhen. Auf dem Festland konnte die gleiche Bemerkung das Gegenteil bewirken.
Schielin folgte der Zwanzigerstraße, freute sich schon auf die noch bevorstehende Rosenblüte entlang der Heidenmauer, passierte die Inselhalle und parkte schließlich jenseits der Geleise, vor dem Eingang zur Volkshochschule. Von dort ging er die wenigen Meter bis zum Ufer, ohne sich konkret bewusst zu sein, was er eigentlich hier wollte. Ein Gefühl leitete ihn, das ihm bedeutete, sich näher mit dem Tatort auseinanderzusetzen. Und das war nur möglich, wenn er sich vor Ort begab, mit eigenen Augen sah, die Stimmung aufnahm, Geräusche, Gerüche und Bewegungen erfasste und dies alles zu einem Gesamteindruck verschmolz. Google Earth konnte all das nicht leisten.
Er hatte zuvor noch Robert Funk angerufen und Bescheid gegeben, dass er später kommen würde. Lydia Naber war bereits damit beschäftigt, die Unterlagen durchzuarbeiten, Erich Gommert stand ratlos vor einem piepsenden Laserdrucker, und Kimmel wollte noch am Vormittag eine Besprechung.
Robert Funk war froh, als Schielin endlich auftauchte, denn er saß in seinem Büro-Salon und wollte sich eigentlich einem Antiquitätenkatalog widmen, dessen Schmuckangebot er mit den Abbildungen in einem Kunstfahndungsblatt verglich.
Sicher wäre das auch am Computer gegangen, doch das System war wieder einmal ausgefallen. Daran war man ja inzwischen gewöhnt. Störender aber war die Anwesenheit eines Kuriers aus Kempten, der die Spurenberichte vorbeigebracht hatte, Funks Büro als das bequemste erkannt, und es sich ungefragt im gepolsterten Besuchersessel bequem gemacht hatte.
Zwar erweckte Funk den Eindruck konzentrierter Arbeit, was den Kollegen jedoch nicht davon abhielt, draufloszuplappern. Er berichtete davon, dass sie in Kempten ja nun ein Polizeipräsidium wären und dass man sich gar nicht vorstellen könne, welche zusätzlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten damit einhergingen. Funk sah manchmal skeptisch auf, ließ aber nicht den Eindruck entstehen, als wolle er sich zu dem Thema äußern.
Als er unfreiwillig über alle Umzugsmaßnahmen, Umstrukturierungen und Verwerfungen, auch persönlicher Art, informiert war, hörte er Schielins Stimme im Gang. Ihm war bisher nur klar geworden, dass das alles, was mit dieser Reform zu tun hatte, wahnsinnige Summen verschlang, und bisher konnte ihm niemand erklären, worin für ihre Ermittlungsarbeiten ein Vorteil liegen konnte.
Er legte die Unterlagen zur Seite, ließ sich nach hinten sinken und fragte über den breiten Schreibtisch hinweg: »Kennst du die Geschichte vom Handkäs? … Nein? … Dann hör mal zu. Eine Käserei hat jahrzehntelang einen Handkäs verkauft und auf der Packung stand jahrzehntelang Handkäs. Irgendwann kam ein Consulting in die Firma und Produktdesigner. Die altmodische Verpackung wurde für verdammt viel Kohle durch eine modernere – angeblich ansprechendere – ersetzt. Das Papier wurde bunter, feiner – und auf der Packung stand nun nicht mehr ordinär Handkäs, sondern fromage à la main, vieille recette.«
Der Präsidiale sah ihn irritiert an, denn Funk hatte die Augenbrauen nach oben gezogen und schien auf eine Entgegnung zu warten. Als die nicht kam, sagte er mit einem grantigen Unterton. »Es ist aber so! Wenn man das bunte Papier des fromage à la main, vieille recette öffnet, dann hat man nach wie vor einen Handkäs vor sich liegen. Alles klar?«
Er stand auf und trat wortlos in den Gang, um Schielin zu begrüßen, rollte dann mit den Augen und wies mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu seinem Büro. Schielin sah den Kollegen im Sessel sitzen und klopfte Funk mitleidig auf die Schulter, bevor er seinem Büro zueilte.
*
Dort saß Lydia am Schreibtisch und las konzentriert die Spurenberichte. Sie grüßte ihn stumm mit einem kurzen Blick.
»Und? Was sagt die moderne Spurenanalyse des CSI Allgäu? Wer wars?«, fragte er schnippisch.
Lydia Naber spielte versonnen mit ihren Lippen, bevor sie antwortete. »Der Spurenbericht ist leider
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