Pulverturm
nichts zu vergessen – all das war hier verschwunden. Was ihm blieb und Bedeutung hatte, war ein altersschwaches Haus mit Fenstern, die schon lange erneuert gehörten, ein von den Töchtern bemängelter, viel zu langsamer Internetanschluss, eine marode Ölheizung, der Duft von Holz, Tieren, Wiesen, selbst gekochtem Essen – und Marja.
Albin Derdes musste ihn gesehen haben, denn kaum hatte er den Hänger am Auto, kam er anmarschiert und begrüßte ihn mit Handschlag.
»Mensch, der Kinker, he!«, lautete die Aufforderung an Schielin etwas über den Fall zu erzählen.
Der hatte aber gar keine Lust, machte ein ernstes Gesicht und legte einige Lederriemen zurecht, die er beim Hufschmied brauchen würde. Von hinten war Ronsard zu hören, der zweimal kräftig schrie.
Albin Derdes rieb mit beiden Handflächen über das ausgeblichene Blau seines Mäntelchens. »Wie hat ein Mensch nur so was verdient. Des hat doch mit Gerechtigkeit nichts mehr zum tun, nichts mehr.«
Schielin bejahte.
»Ich hab ja seinen Vater gut gekannt.«
Das war interessant. Schielin unterbrach sein unnützes Zusammenlegen der Lederriemen und sah Derdes auffordernd an.
»Ja«, bestätigte der, »wir waren oft zusammen. Bis zu seinem Ende. Mei, des war traurig.«
Schielin holte die Sprühdose mit dem Desinfektionsmittel und fragte: »Wieso traurig?«
»Ja, weil des so plötzlich ging. Der Mann war doch im besten Alter, noch keine sechzig Jahre.«
Schielin war beruhigt. Er hatte also noch einiges vor sich, wenn Gott es zuließ. Er fragte. »Wie ist er denn gestorben?«
Derdes machte ein schmerzverzerrtes Gesicht. »Ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Wir waren beim Maibaumsetzen, unten am alten Reutiner Rathaus, vom Liederhort aus … da singen wir doch immer.«
»Mhm. Lieder … da bist du doch Gründungsmitglied, im Liederhort 1869, e, vau«, warf Schielin zwinkernd ein.
Derdes überging die Frotzelei. »Ja no, und da wird ja bis heute immer noch gesungen. Also des fehlt mir scho, aber was soll so ein alter Säckel wie ich da noch rumkrähen. Es war schon immer schön. Die Maibaumfeste, des Weinfest oder des Christbaumsingen.«
»Und beim Maibaumsingen ist der alte Kinker gestorben?«, fragte Schielin.
»Nein. Den ganzen Tag war ihm schon nicht wohl, und nach dem Singen ist es ihm ganz schlecht gewesen. Er ist dann umgefallen. Der Doktor war ja gleich dabei. Der Schlag hat ihn troffen. Schlaganfall. Er hat nicht mehr reden können, die ganze linke Seite war gelähmt. Damals hat man ja noch nicht gewusst, wie man das am besten behandelt. Er ist dann halt zu Hause gelegen und gar nicht mehr rausgekommen. Dann war da, glaube ich, noch ein Schlägle ein paar Wochen später, und kurz drauf war er dann tot. Des alles hat kein Jahr gedauert.«
Schielin war fast ein wenig enttäuscht, denn es ließ wenig bis keinen Raum für Spekulationen.
»Kennst du die Familie?«
Derdes drehte sich weg. »Ja hör mir bloß auf. Dem seine Holdigkeit, ja hot die Haar auf de Zähn ghabt. Jesus Maria. Also der arme Mensch hat sich ja um jede Stunde gefreut, die er von zu Hause weg war. Und sein Bub auch.«
»Wie, sein Bub? Der Ottmar Kinker?«
»Ja sicher. Der Ottmar war ja auch im Liederhort, und beim Musikverein Reutin hat der Trompete gespielt. Der hat das Musikalische vom Vater geerbt. Das war ganz ein musikalischer Mensch. Ein Tenor, unglaublich. Und ein lustiger Mensch. Ein ganz lustiger und … lebendiger Mensch. So wie die ganze Familie, also die von der Vaterseite her. Die von der Mutterseite woiß ich gar net … des sind ja keine Lindauer net gewesen. Des waren, glaube ich, Flüchtlinge, von nach dem Krieg.«
»Von der Lustigkeit ist beim Ottmar Kinker aber nicht viel übrig geblieben.«
»Der Tod von seinem Vater hat ihn vielleicht so arg mitgenommen. So was gibt es doch. Jedenfalls hat er mit der Musik aufgehört, und ich hab ihn dann auch gar nicht mehr gesehen. Auch net beim Kinderfest, droben im Bierzelt auf der Steig, oder anderswo. Der war wie verschollen. Erst als ich in der Lindauer gelesen hab, dass der Tote ein Ottmar K. aus Lindau war, bin ich auf den Namen kommen, und beim Schafkopfen drunten in der Weinstube war des ja dann schon bekannt.«
Der letzte Satz klang etwas beleidigt und war auf Schielin gemünzt, der seinem Nachbarn schließlich einen im Wirtshaus gut zu vermarktenden Informationsvorsprung hätte verschaffen können.
Schielin überging den unausgesprochenen Tadel. »Seit wann gehst du in die
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