Pulverturm
da gibt es keine Optionen, Alternativen, Chancen.«
»Mhm. Ich verstehe«, sagte Lydia Naber.
»Nichts, gar nichts verstehen Sie«, entgegnete Jelena Kurzowa, »und nicht etwa, weil Sie es nicht verstehen wollten oder Ihr Interesse nur geheuchelt wäre. Nein, Sie haben wirklich Interesse an der Beantwortung Ihrer Frage. Um die Antwort zu verstehen, fehlt Ihnen aber die persönliche Erfahrung. Die Erfahrung, dass es Regionen gibt, in denen es für die blanke Existenz völlig unerheblich ist, über welche Bildung man verfügt.
Sie fragen mich, wie ich dazu komme, auf die Art und Weise Geld zu verdienen, wie ich es tue? Der fundamentale Ansatz Ihrer Frage ist ein moralischer. Wie komme ich dazu, meinen Körper zu verkaufen, um zu existieren?
Wäre ich in der Ukraine geblieben, hätte ich in einer Gemüsefabrik arbeiten können, am Band, mitsamt meiner Promotion über Dostojewski, mitsamt meinem Wissen, meinem unbändigen Interesse an Kunst und Kultur. In der Gemüsefabrik hätte ich sicher Karriere machen können, wenn ich mich vom Direktor hätte vögeln lassen. Und niemand … niemand hätte mir jemals die Frage gestellt, wie ich dazu komme, meine Existenz sicherzustellen, mein Geld zu verdienen, Gemüsefabrikkarriere zu machen. Aber hier, hier im Paradies, in all der Sattheit, der Langeweile, hier kriecht nun das Moralische hervor.«
Sie beugte sich nach vorne. »Wenn Sie in einem Land leben, in dem sich niemand für Sie und Ihre Zukunft interessiert und Sie nur einen klaren Kopf, einen gesunden Körper … einen begehrenswerten Körper …. und eine Menge Wissen haben und Sie eine andere Vorstellung vom Leben haben, wenn der Begriff Zukunft mehr für Sie bedeutet, als der Horizont, der zu sehen ist, wenn Sie mehr vom Leben erwarten, als das Frauenschicksal in einer Gemüsefabrik, dann schwinden die Optionen.
Ich habe also im heimatlichen Gemüsepuff gearbeitet, dem Direktor in die Eier getreten, als er mir zu nahe gekommen ist, und mir mit dem Geld, das ich hatte, das Wertvollste gekauft, was es bei uns zu kaufen gibt. Und das waren weder Ol, noch Kaviar, Klamotten, Gold oder Diamanten. Nein. Es war ein Visum. Ich habe ein Schengen-Visum erhalten in der Botschaft in Kiew. Und dann bin ich an Josef Pawlicek geraten. Und dieser Josef Pawlicek, den Sie festgenommen haben und den Sie für einen Mörder halten, dieser Zuhälter, der hat mir eine Chance gegeben. Und er hat mich besser behandelt als der Direktor unserer Gemüsefabrik. Und aus diesem Grund bin ich heute hier und werde mich darum kümmern, dass es ihm gut geht und dass er eine faire Chance erhält.«
Sie lehnte sich zurück, noch immer die Entschlossenheit im Körper, die ihre Worte so eindrücklich hatten klingen lassen.
Lydia Naber schwieg zunächst. »Sie haben recht. Persönliche Erfahrungen habe ich nicht, doch sollten Sie die Vorstellungskraft und die Ernsthaftigkeit der Wahrnehmung anderer nicht unterschätzen.« Dann fragte sie: »Kennen Sie Frau Yulia Kavan?«
»Natürlich kenne ich Yulia. Auch wegen ihr bin ich hierhergekommen.«
»Sie hat erst vor Kurzem Ottmar Kinker geheiratet.«
Jelena Kurzowa antwortete nicht und zeigte sich ebenso wenig überrascht.
»Sie wussten also von dieser Heirat?«
»Ich war nicht eingeladen.«
Lydia Naber unterbrach das Frage- und Antwortspiel, das ihrer Meinung nach zu nichts führen würde. Stattdessen begann sie von Ottmar Kinker zu erzählen, wie er gelebt hatte, welche Art Mensch er ihren Erkenntnissen zufolge gewesen sein musste und wie er gestorben war. Sie lehnte dabei locker in ihrem Drehstuhl und hatte Notizblock und Stift aus der Hand gelegt.
Als sie geendet hatte, sagte sie: »Pawlicek war zur Tatzeit am Tatort, und er steht in enger Verbindung zu Yulia Kavan, die für ihn gearbeitet hat. Für uns sieht das nach Komplizenschaft aus.«
Jelena Kurzowa veränderte zum ersten Mal in dem Gespräch ihre Körperhaltung. Bisher hatte sie sehr diszipliniert dagesessen. Doch Lydia Naber hatte mit ihrer ruhigen Art aus der Befragung ein Gespräch gemacht. Jelena Kurzowa schlug die Beine übereinander, faltete die Hände über dem Schoß und überlegte. »Ich weiß nicht, aus welchem Grund Yulia diesen Kinker geheiratet hat. Aber offensichtlich war es für sie die Chance, die Josef Pawlicek für mich bedeutete.«
»Bedeutete?«, fragte Lydia Naber interessiert nach.
»Ich verantworte inzwischen alle Entscheidungen, die das Geschäft betreffen. Josef Pawlicek vertraut mir und hat mir alle Vollmachten
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