Pulverturm
Sterne im Sextanten sichtbar und machten eine Positionsbestimmung möglich.
Schielin saß in seinem Büro und blickte aus dem Fenster. Die Nachtschicht war gerade gekommen, die Beschäftigten im Gesundheitsamt hatten schon vor Stunden ihr Wochenende begonnen.
Nachdenklich sah er in das Dunkel draußen, wo sich einige Kilometer entfernt, von Norden her, ein VW-Bus mit Münchner Kennzeichen der Stadt näherte. Fast wäre es in der Autobahnausfahrt zur Kollision mit einem BMW Cabrio gekommen. Die Fahrerin des VW fluchte, denn sie hatte den Eindruck, dass ihr Pendant im BMW trotz der Dunkelheit mit Sonnenbrille durch die Gegend fuhr. Es war unglaublich, was sich so alles auf der Straße bewegte. Ihre aufgebrachte Verwunderung wuchs, als sie feststellte, dass das Cabrio anscheinend den gleichen Weg hatte.
Als das österreichische Fahrzeug in den Innenhof der Kripo Lindau einbog, gefolgt von einem Münchner VW-Bus, begann die astronomische Dämmerung. Die beiden Frauen, die aus unterschiedlichen Richtungen nach Lindau gekommen waren, saßen kurze Zeit später in verschiedenen Büros der Dienststelle.
Agnes Borsche hatte ihre Unterlagen aus dem VW-Bus geholt, sich bei Schielin gemeldet und die anwaltliche Vertretung von Josef Pawlicek übernommen.
Jelena Kurzowa hatte die Sonnenbrille nach oben geschoben, wo die beiden großen schwarzen Gläser augenlos zur Decke blickten. Es passte zu ihr. Josef Pawlicek wurde von zwei Beamten in das Kripogebäude gebracht. Er war gelassen und ließ keinerlei Anspannung erkennen.
Erich Gommert und Jasmin Gangbacher waren auf dem Weg zum Treffpunkt nach München. Ihnen kam eine Streife der Fahndung Passau entgegen. Auf dem Rücksitz saß in endlosem Schweigen und einem vom Weinen aufgequollenen Gesicht Yulia Kavan mit ihrer Tochter. Die Sonne stand nun achtzehn Grad unter dem wahren Horizont, und inzwischen war es völlig dunkel geworden.
*
Jelena Kurzowa saß aufrecht auf dem Besucherstuhl in Lydia Nabers Büro und verfolgte interessiert, wie die blonde Frau die Angaben im ukrainischen Pass prüfte. Jelena Kurzowa sprach nahezu akzentfrei deutsch und in ihrer Aufmachung – dem braunen Hosenanzug, der beigen Seidenbluse, den kurzen braunen, glänzenden Haaren und der Sonnenbrille – waren alle, die mit ihr in ersten Kontakt gerieten, der Meinung, es handele sich um Pawliceks Anwältin, deren Kommen telefonisch angekündigt worden war. Wie sich herausstellte, war das aber die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, die Jeans und Sweatshirt trug, und kurz nach der beeindruckenden Erscheinung der Ukrainerin die Dienststelle betreten hatte.
»Aus welchem Grund sind Sie hierhergekommen, Frau Kurzowa? Es ist ja ein beachtlicher Weg von Linz bis hierher.«
»Ich möchte mich um Josi … Herrn Pawlicek kümmern. Dafür sorgen, dass es ihm gut geht.«
Lydia sah sie einen Augenblick ernst und schweigend an. »Sie wissen, was ihm vorgeworfen wird?«
Jelena Kurzowa senkte kurz das Kinn. Es sah ungemein sinnlich aus, wie Lydia fand. Eine Puffmutter hatte sie sich anders vorgestellt. Ihr gegenüber saß eine gebildete, gut aussehende, energische Frau, die jetzt ruhig und voller Überzeugung sagte: »Er war es nicht.«
Lydia Naber zuckte mit der Schulter. »Sie scheinen überzeugt zu sein. Kennen Sie die Vergangenheit von Josef Pawlicek.«
»Gerade weil ich seine Vergangenheit kenne, bin ich überzeugt von dem, was ich eben gesagt habe.«
»Ich hoffe, Sie werden nicht zu sehr enttäuscht sein, wenn wir nachweisen können, dass Herr Pawlicek wieder gemordet hat.«
Lydia Naber wechselte das Thema. »Wie kommt eine Frau wie Sie eigentlich dazu, auf diese Art und Weise Geld zu verdienen?«
Jelena Kurzowa lachte laut auf. »Sie fragen wie ein Mann. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet.«
»Es interessiert mich aber«, entgegnete Lydia Naber unmittelbar und kühl, um zu verdecken, dass sie Jelena Kurzowas Satz getroffen hatte.
»Was interessiert Sie daran, dass ich die Geschäftsführerin eines Hotels bin? Rührt Ihr Interesse daher, weil ich aus der Ukraine komme, eine Tschuschn bin, wie das in Österreich heißt?«
»Nein, überhaupt nicht. Sie haben doch ganz andere Voraussetzungen, ein Studium, Kunst und Literatur, wenn ich recht informiert bin. Es interessiert mich einfach, das … wieso. Wieso dieser Weg?«
»Weil es die einzige Chance war, die ich hatte. Weil Josef Pawlicek der Einzige war, der mir eine Chance gegeben hat. Deswegen bin ich hier. In der Ukraine, in Russland …
Weitere Kostenlose Bücher