Puppenfluch
festgefroren an ihren Fingern. Durch das Visier war nichts mehr zu sehen, Siri fühlte sich, als wäre sie in einer kalten, nassen Blase eingeschlossen.
»Hilfe«, japste sie panisch, aber ihre Stimme drang nicht nach außen.
Sie schaffte es, eine Hand zu heben und mit einem Ruck das Visier nach oben zu klappen. Mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen schwamm sie zur Kanalmauer.
»Hilfe!«, rief sie wieder und jetzt war ihre Stimme deutlich zu hören, aber ihr Ruf prallte gegen die Mauern des Kanals und reichte nicht weit.
»Hilfe!«, versuchte sie es noch einmal, doch es war niemand da, der sie hörte. Oben auf der Straße war alles leer und still.
Sie klammerte sich mit einer Hand an einen kleinen Vorsprung in der Mauer, während sie mit den Zähnen an dem anderen Handschuh zerrte, und endlich gelang es ihr, ihn auszuziehen.
Inzwischen fühlte sie die Kälte nicht einmal mehr. Es war, als ob ihr Körper langsam taub wurde, und es fiel ihr immer schwerer, Arme und Beine zu bewegen.
Sie ließ die Mauer los und zog sich auch den zweiten Handschuh aus. Die Strömung trug ihn weg. Endlich gelang es ihr, den Helm vom Kopf zu nehmen und ins Wasser fallen zu lassen. Verzweifelt tastete sie mit den Händen die groben Steine der Mauer ab.Gab es denn keine Möglichkeit, irgendwo aus dem Wasser zu klettern?
Wenn es doch wenigstens hell gewesen wäre! Sie konnte überhaupt nichts erkennen. Irgendwo musste es eine Leiter geben. Vielleicht an der Fußgängerbrücke. Aber von der war sie noch mindestens fünfzig Meter entfernt. So weit konnte sie auf keinen Fall schwimmen.
Siri versuchte, einen Entschluss zu fassen, und schaute zur Brücke. Eine dunkle Gestalt bewegte sich dort oben, zeichnete sich gegen die schwache Straßenbeleuchtung ab. Siris Herz schlug schneller. Endlich jemand, der ihr helfen würde!
»Hilfe!«, schrie Siri. »Hier unten! Im Wasser! Ich komme nicht raus!«
Die Person auf der Brücke reagierte nicht. Er oder sie stand einfach nur da und schaute reglos zu ihr hinunter.
»Schnell!«, rief Siri verzweifelt. »Ich kann nicht mehr! Hilfe, ich ertrinke!«
Dann kam plötzlich Bewegung in die Person. Mit schnellen Schritten lief er oder sie über die Brücke. Weg von Siri. Sie hörte noch, wie sich das Klappern der Absätze entfernte, dann wurde eine Autotür geschlossen und ein Motor startete. Verwirrt nahm sie wahr, wie das Motorengeräusch verebbte.
Siri lehnte die Stirn gegen die eisige Wand und schluchzte laut.
9
Aron hatte es sich mit Trollan auf dem Bett gemütlich gemacht und zappte sich durch die Kanäle seines kleinen Fernsehers, als Mama nach Hause kam.
»Schaust du Fernsehen ... oder denkst du an Siri?«, fragte sie.
»Nee, ich gucke Simpsons ... Oder, ja, vielleicht habe ich auch ein bisschen nachgedacht.«
Er merkte, dass er rot wurde, und die Mundwinkel seiner Mutter zuckten.
»Aber du vernachlässigst ihretwegen hoffentlich nicht deine Freunde? Du weißt ja, dass man Freundschaften pflegen muss.«
»Ja, ja, keine Sorge.«
Obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Tatsächlich hatte er sich schon eine ganze Weile nicht mehr bei Alexander gemeldet. Vielleicht sollte er das tun. Mama nickte.
»Dann ist ja gut. Du, ich muss noch mal kurz weg.«
»Ist irgendwas passiert?«
»Nein, nein, es gibt nur ein paar Probleme mit der Weihnachtsausstellung, die wir vorbereiten. Ich muss zum Gewächshaus und ein paar Sachen überprüfen. Der Brandschutz macht Ärger. Das haben sie zwarschon den ganzen Herbst über getan, aber inzwischen gibt es jede Menge neuer Vorschriften, die wir möglicherweise nicht erfüllen. Wir brauchen einen Plan B. Es wäre ein Jammer, wenn die Blumenausstellung nur daran scheitern würde, weißt du.«
Aron wusste nicht, wovon sie redete, aber das lag vermutlich daran, dass er meist nicht so genau zuhörte, wenn sie von ihren Blumen und dem Garten erzählte.
»Ja, ja.«
»Papa kommt heute spät, aber im Kühlschrank ist Essen, falls du Hunger hast.«
»Mm. Mal sehen. Vielleicht schaue ich noch kurz bei Alexander vorbei«, sagte Aron.
»Mach das!«
Ein Lächeln huschte über Elenas Gesicht, dann drehte sie sich um und ging. Er hörte, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel.
Widerstrebend stand Aron auf. Eigentlich wollte er am liebsten weiter an Siri denken, aber irgendwie hatte seine Mutter recht. Typen, die sich ein Mädchen anlachten und dann nichts mehr von ihren Freunden wissen wollten, hatte er noch nie leiden können. So einer wollte er
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