Puppenfluch
Facebook chatten konnten. Aber halt, da waren ja doch ein paar Nachrichten, die gestern noch nicht da gewesen waren! Nur das Symbol, das jede neue Nachricht auf dem Display anzeigte, war nirgends zu sehen. Es sah ganz danach aus, als hätte sie schon jemand gelesen.
Siri beschloss, dass sie ihre Mailbox ebenso gut jetzt gleich abhören konnte, und drückte die Kurzwahltaste. Es war nur eine alte Nachricht darauf. Siri wollte sie trotzdem hören: »Hallo, hier ist Irina.«
Die Stimme klang munter und fröhlich.
»Ich wollte mich nur kurz melden und dir sagen, dass es mir gut geht. Ich arbeite in einem Restaurant in Stockholm und bekomme nächste Woche meinen ersten Lohn. Ich teile mir mit einem anderen russischenMädchen ihre Einzimmerwohnung. Danke, liebe Siri, dass du mir geholfen hast! Ich melde mich wieder!«
Irina hatte keine Telefonnummer hinterlassen und nachdem sie direkt auf der Mailbox gelandet war, wurde auch auf dem Display keine Nummer angezeigt, von der aus sie angerufen hatte.
Siri legte auf und ließ langsam das Handy sinken. Irinas Nachricht war schon abgehört worden. Aber von wem?
Und dann ging ihr langsam auf, was das bedeutete.
Dieser Jemand wusste, dass Irina in Stockholm war!
Dass sie in Schweden angekommen war, musste den Typen, dank der Tasche vor der Vereinsbaracke, ja schon lange klar gewesen sein. Siris Gedanken rasten. Und jetzt wussten sie auch, dass es Siri gewesen war, die Irina bei der Flucht geholfen hatte! Irgendjemand wusste, dass Siri mehr gesehen hatte, als gut war!
Und dieser Jemand war möglicherweise Martin.
Wie hatte sie nur so dämlich sein können, ihr Handy zu verlieren! Siri zog die Schultern hoch und startete das Moped. Ihr war übel. Zum Glück hatte Irina den Namen des Restaurants nicht gesagt, es wusste also noch immer niemand genau, wo sie war. Die Einzige, die Martin sich stattdessen schnappen konnte, war Siri selbst ...
Kein sehr beruhigender Gedanke.
Sollte sie Kommissarin Björk anrufen? Oder war das übertrieben? Siri zögerte. Sie wollte kein unnötiges Risiko eingehen, aber sie wollte sich auch nicht lächerlich machen. Denn – selbst wenn Martin die Nachricht abgehört hatte, was sollte er Siri schon tun? Das hier war schließlich kein Hollywoodstreifen. Das hier war Schweden.
Siri versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass keinerlei Gefahr bestand. Zu Hause würde sie mit Mama darüber reden und mit ihr zusammen entscheiden, ob sie Kommissarin Björk verständigten oder nicht. Das war ein guter Kompromiss.
Sie ließ das Villenviertel hinter sich und bog in Richtung Innenstadt ab. Niemand war auf den Straßen unterwegs, obwohl es erst kurz nach fünf war. Die Bürgersteige waren menschenleer. Überall in den Schaufenstern glitzerte Weihnachtsbeleuchtung.
Weihnachten – sie musste noch Geschenke besorgen, wenigstens für die Familie. Und natürlich hatte sie wie immer kein Geld. Außer auf dem Sparbuch natürlich. Aber das würde sie nicht anrühren – das war für den Flugschein!
Sie bog nach links ab und fuhr am Kanal entlang. Es war kalt – ihre Fingerkuppen schmerzten trotz der Handschuhe und auch ihre Schenkel und Knie waren schon durchgefroren. Vereinzelte Schneeflocken blieben am Visier ihres Helms kleben und verwandeltensich in Wassertropfen. Siri war tief in Gedanken versunken.
Ella und Disa ... die würden beide etwas zum Spielen bekommen. Und Mama ... ein paar hübsche Kühlschrankmagnete vielleicht? Etwas für Henrik zu finden war immer schwer – meistens endete es mit Socken ...
Siri bemerkte Autolichter im Seitenspiegel und hielt sich ganz automatisch noch ein Stück weiter rechts.
Plötzlich spürte sie einen kräftigen Stoß gegen ihr Moped. Sie konnte gar nicht so schnell begreifen, was passierte, als ihr Moped schon zur Seite geschleudert wurde und die Böschung hinunterstürzte, über die Uferbefestigung und weiter in den eisigen Kanal.
Das Wasser schloss sich über Siri. Reflexartig klammerte sie sich noch immer an ihrem Moped fest und wurde mit nach unten gezogen. Widerstrebend ließ sie los und versuchte, nach oben zu gelangen. Ihre Beine waren schwer wie Blei, ihr ganzer Körper wie erstarrt. Sie zwang sich, weiterzustrampeln, und erreichte endlich keuchend die Wasseroberfläche. Sie öffnete den Mund und schnappte nach Luft. Ihre Lunge brannte. Alles zog sie nach unten, die Stiefel, die Kleider.
Siri versuchte, ihre Handschuhe auszuziehen, um den Helm zu öffnen, aber es war unmöglich, sie saßenwie
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