Puppengrab
rauskommen. Wir kommen rein und geben Ihnen Deckung, sobald die Geiseln draußen sind.«
Neil sagte nichts. Auch Harrison, Standlin und Brohaugh waren verstummt. Jeder wusste, dass diese Situation so nicht eintreffen würde. Bankes hatte den Ort wirklich gut gewählt. Er hätte nie im Leben aus dem Park entkommen können, und das schon zehn Minuten nach seinem Anruf nicht.
Und daher wussten alle, dass Bankes nicht hier war.
»Wir könnten uns täuschen, Sheridan«, meinte Copeland. »Bankes könnte sich entschieden haben aufzugeben. Vielleicht sitzt er dort in dem Entwässerungstunnel und will Sie mit sich in den Tod reißen.«
»Wir irren uns nicht«, entgegnete Neil. »Bankes ist nicht hier. Uns bleibt bloß die Hoffnung, dass er wenigstens die Frau und das Kind hiergelassen hat. Lebend.«
Aber auch daran glaubte eigentlich niemand mehr. Man vermutete, bald Leichen zu sehen. Und Puppen.
Copelands Funkgerät summte, er ging ran und meldete sich dann bei dem Scharfschützen. »Es geht los.«
Neil bewegte sich so lässig auf den tunnelartigen Durchlass zu, wie es möglich war, wenn einem das Herz in der Brust hämmerte. Nichts bewegte sich um ihn herum. Es gab nichts, das sich bewegen konnte. Gepflegter Rasen, das sanfte Tschilpen der Vögel und der Himmel, der sich langsam von Blau in Rosa färbte. Ein schöner Abend, wenn man nicht dabei war, eine Grabstätte zu betreten. Oder in eine Falle zu tappen.
Fünfzig Meter Abstand zu den Picknicktischen, sechzig. Noch in der Reichweite des Scharfschützen, aber noch nicht der Schusswaffen, die Bankes aus Hammonds Laden gestohlen hatte. Nach einhundert Metern verlangsamte Neil seine Schritte. Nun konnte er den Eingang des Tunnels erkennen – ein steinerner Bogen, der zirka einen Meter hoch und nicht sehr breit war. Bei Regen sammelte sich das Wasser unter dem Bogen zu einer großen Pfütze und entwässerte somit die Spielplätze und die Hügel des Parks, an deren Abhängen die Leute Drachen steigen ließen. Es hatte zwar am Vortag geregnet, doch nicht genug für eine Pfütze. Trotzdem war damit zu rechnen, dass der Boden schlammig und glitschig war. Und es war schlimm genug für eine Frau und ihr Kind, die sich darin aufhielten, froren und durchnässt waren.
Neil atmete langsam und tief ein.
Wir könnten uns täuschen. Vielleicht sitzt er dort in dem Tunnel und will Sie mit sich in den Tod reißen.
Neil wusste, dass Bankes nicht da war.
Doch jemand anderes war da. Mist, etwas hatte sich gerade bewegt. Er war nun näher dran, ungefähr dreißig Meter von dem Tunneleingang entfernt. Wenn Bankes ihn erschießen wollte, dann wäre es bald so weit. Wenn Bankes die Frau und ihr Kind getötet hatte, dann würden keine Geräusche herausdringen. Und wenn er nur eine Puppe hinterlassen hätte, dann würde sich da nichts am Eingang bewegen.
»Sheridan.« Die Stimme des Scharfschützen flüsterte in Neils Ohr. Mit der Brennweite seines Gewehrs wurde ein Käfer so groß wie ein Monster. »Treten Sie nach rechts. Da drin bewegt sich etwas.«
Neil hatte es auch schon bemerkt und gehört. Die Geräusche – Schluchzen und Wimmern wie ein verwundetes Tier, die Bewegungen – Zittern wie klappernde Knochen.
Er machte nun kleinere Schritte und ging langsam auf die rechte Seite des Wegs, um dem Scharfschützen bessere Sicht zu gewähren. Lieber Gott, hoffentlich drückte er nicht zu schnell ab, falls eine der Geiseln noch lebte. Neil ging noch langsamer. Aus seiner neuen Position war die Sonne nunmehr eine goldene Scheibe, die hinter dem Durchlass glühte und alles vor Neils Augen zu schwarzen Umrissen verschwimmen ließ.
Neil ließ eine Hand in die Hosentasche gleiten und berührte die . 22 er. Sie fühlte sich wie ein Spielzeug an, verglichen mit der 10 -mm-Waffe, die er beim FBI benutzt hatte, oder der . 45 er, die er in letzter Zeit bevorzugte. Neils Hände hatten die Größe von Bärenpranken, kein Wunder, dass er lieber größere Waffen mochte. Doch andererseits konnte man auch mit einer . 22 er jemandem ein Loch in die Brust schießen, wenn man in der Klemme saß.
Und er würde durchaus von sich behaupten, gerade in der Klemme zu stecken.
»Weiter, Sheridan, treten Sie weiter nach rechts«, flüsterte der Scharfschütze erneut in seinem Ohr. Die Sonne glühte hinter dem Durchlass hervor, als Neil noch näher herankam, und er dachte, dass der Scharfschütze alles durch ein Teleskop betrachtete, dessen Reichweite egal war, und dass die Reporter darum wetteiferten,
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