Puppengrab
Fußgängerpärchen musste rasch zur Seite springen, als er den Wagen herumriss, um ihr zu folgen. Als die Ampel von Gelb auf Rot sprang, hatte er es geschafft, sich hinter ihr einzufädeln.
Gerade noch rechtzeitig.
Neil fuhr in die kleine Stadt in der Nähe von Harrisburg, wo Gloria Michaels’ Familie noch immer lebte. Sie lag rund eineinhalb Stunden von der Universität West Chester entfernt. Gloria war dort im letzten Jahr vor dem Examen gewesen. Sie hatte auf dem Campus gewohnt. Hauptfach Radio- und Fernsehjournalismus. Gloria hatte das typische, fast makellose Leben einer Studentin geführt. Sie hatte ein wenig zu viel gefeiert und war in der Biologieprüfung beim ersten Mal durchgefallen. Und sie war gern mit Jungs ausgegangen.
Anthony Russell war ein dreißig Jahre alter Automechaniker, der einmal ihren Wagen repariert hatte. Er gehörte zu einer Gruppe von jungen Männern, die Neil als Glorias Ex-Freunde ausfindig gemacht hatte. Keiner von ihnen wäre ernsthaft für den Mord an Gloria in Frage gekommen. Anhand der Merkmale dieser Beziehungstat – es war sechzehn Mal auf sie eingestochen worden – hatte Neil jeden Mann an Glorias Seite ausschließen können.
Bis auf Russell. Der schließlich ein Geständnis ablegte. Während sein Anwalt vor Freude fast einen Orgasmus bekam.
Neil verdrängte die Erinnerung und versuchte, die Stelle auf seinem Oberschenkel zu ignorieren, an dem Kenzies Haarspange ihm ein Loch durch die Hosentasche zu brennen schien. Wenn Ellen Jenkins nur recht behalten hätte, wie Neil mit dem Fall umgegangen war: Wenn er Russell wirklich auf den Zahn gefühlt und dann die örtlichen Behörden den Rest hätte erledigen lassen. Doch das hatte er nicht. Als Neil erfuhr, dass Russell auf der Flucht war, hatte er mitten auf der Autobahn gewendet und war nach Chester County zurückgefahren. Er hatte Heather angerufen, um ihr zu sagen, dass er ein bis zwei Tage länger bleiben würde. Daraus waren schließlich drei Wochen geworden. Und die hatten das Ende für drei Menschenleben bedeutet.
Er schob die Erinnerung von sich, als er vor dem einstöckigen, schindelbedeckten Haus hielt, das an einer zweispurigen Straße lag. Die nächsten Häuser waren ein paar Kilometer entfernt. Pat Michaels öffnete die Tür, als Neil noch in der Auffahrt stand. »Agent Sheridan«, sagte sie.
Neil musste sie korrigieren. »Ich bin kein
Agent
mehr, Mrs. Michaels.«
»Ich weiß. Wir haben davon gehört.« Sie trat einen Schritt zurück und bat ihn mit einer Geste, hereinzukommen. Neil merkte, dass sie es vermied, seine Narbe anzusehen, die bei ihrer letzten Begegnung noch nicht da gewesen war. Glorias Vater Tom stand weiter hinten im Flur und hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt.
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte Neil und hielt ihm die Hand hin. Michaels erwiderte den Handschlag nur widerwillig. »Mir ist klar, dass Sie am wenigsten damit gerechnet haben dürften, mich wiederzusehen.«
»Schon gut«, sagte Pat Michaels und machte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung ihres Mannes. Sie führte Neil am Arm ins Wohnzimmer. Ein Sofa mit Blumenbezug, ein passender Sessel, ein Schaukelstuhl und das Gemälde eines Kolibris, das über einem alten Klavier prangte. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Reihe von Familienfotos. Auf den meisten war Gloria zu sehen.
»Sie war ein so hübsches Mädchen«, sagte Neil, während er die Fotos betrachtete. Dann versuchte er, sich auf etwas Angenehmeres zu konzentrieren und deutete auf das Bild einer dürren Elfjährigen, die wie ein Junge wirkte. Vor all diesen Jahren war sie altklug und traurig gewesen und hatte Neil unverhohlen als ihren Helden verehrt.
»Wie geht es Sarah?«, wollte er wissen. Die Konversation erschien ihm bemüht. »Sie dürfte mittlerweile erwachsen sein.«
»Davon können Sie sich selbst überzeugen.«
Neil wandte sich um und riss die Augen auf. »Sarah?«
»Ich bin ganz schön groß geworden, was?«
Er schmunzelte. »Das kann man wohl sagen.« Sie war blond, kurvig und hatte Beine von hier bis China. Neil warf ihrem Vater einen Blick zu. Er fühlte sich ertappt, nur weil er sie angesehen hatte. Um sämtliche Zweifel zu beseitigen, zwickte er ihr brüderlich in die Nase.
Sie wurde ernst. »Lassen Sie mich raten: Sie sind nicht hier, weil ich alt genug für ein Rendezvous bin.«
»Nein«, antwortete er, und die Leichtigkeit des Augenblicks war schlagartig verpufft. »Ich bin wegen Gloria
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