Puppenrache
sie hatte – und den sie nicht anlügen musste! Er stand auf.
»Ich hab deine Karte in mein Handy eingesetzt, ich hab im Büro noch ein anderes. Ruf an, wenn irgendwas ist.«
»Mach ich. Und… danke.« Sie versuchte, locker zu klingen.
»Nichts zu danken«, er lächelte. »Und ich verspreche dir: Wir schnappen uns diesen Bastard wieder.«
Sie versuchte, sein aufmunterndes Lächeln zu erwidern. Als die Tür hinter ihm zufiel, lauschte sie seinen Schritten, dann dem Zufallen der Haustür. Sie stand auf, ging zum Fenster und sah ihm nach, wie er durch den Vorgarten ging, die Straße überquerte und in den weißen Ford stieg. Stephen hatte sich immer umgedreht. Tim nicht. Warum auch? Sie sah dem Wagen nach, bis er auf die Hauptstraße abbog.
Im Schlafzimmer zog sie sich an. Ich habe einen Job, sagte sie sich, wie ein normaler Mensch. Alles wird wieder normal. Ich muss keine Angst haben. Er weiß nicht, dass ich hier bin. Er kann es gar nicht wissen. Es ist unmöglich. Unmöglich…
Entschlossen machte sie sich auf den Weg zur Arbeit.
Mit jedem Joghurt, jeder Packung Würstchen, jedem Beutel Milch – mit allem, was da auf dem Laufband auf sie zufuhr, was sie anfasste und vor den Scanner hielt, der daraufhin zuverlässig piepste, schritt die Zeit weiter fort. Minute um Minute, Stunde um Stunde. Und jede weitere Packung Chips, jede weitere Tüte Orangensaft verhinderte das Aufkeimen von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen.
Manchmal warf ihr der Abteilungsleiter einen anerkennenden Blick zu, ein Kollege musterte sie missgünstig, eine Kollegin zwinkerte ihr zu. Hin und wieder trank sie einen Schluck Wasser, das war alles. Ich kann wie eine Maschine arbeiten, dachte sie. Ich brauche keine Pause, ich brauche nichts zu essen.
Für ein paar Augenblicke, als eine Kundin ewig lange ihr Kleingeld zusammenzählte, dachte sie an Chris und es tat ihr leid, dass sie ihn nicht wiedersehen würde. Er war nett, und dass er schüchtern war, störte sie nicht. Im Gegenteil, da hatte sie das Gefühl, nichts befürchten zu müssen. Aber auch er würde irgendwann mehr von ihr wissen wollen. Sie würde ihm Lügen erzählen. Und wenn sie sich fürchtete, könnte sie ihm nie sagen, warum. Stephen hatte sie auch nie…
Die Stimme der Kundin riss sie aus ihren Gedanken. »Müsste stimmen! Siebenunddreißig Dollar achtundvierzig!« Die alte Dame lächelte sie triumphierend an.
Vor ihr auf dem Laufband lag ein Haufen Münzen.
Sara lächelte zurück und machte sich ans Zählen. Mit Zählen verging die Zeit besonders schnell.
Dreieinhalb Stunden später hängte sie ihren Kittel in dem engen, fensterlosen Aufenthaltsraum an den Haken. Hier hatte niemand einen Spind. Man musste darauf vertrauen, dass alle Kollegen ehrlich waren, und nahm seine Wertsachen am besten mit. Ihre Kassenkollegen waren schon gegangen, nur noch im Lager hantierten zwei Männer und bei den Kühltheken hatte die Putzfrau angefangen, den Boden zu wischen.
Sara schlüpfte in ihre Denimjacke, nahm ihre Handtasche und ließ sich auf dem Hocker nieder, der einzigen Sitzmöglichkeit außer dem Tisch. Ein weiterer Abend lag vor ihr. Und eine Nacht. Einsame, endlose leere Stunden, in die sich alle Erinnerungen drängen könnten, die sie den ganzen Tag so erfolgreich aus ihren Gedanken verbannt hatte. Und Tim konnte ja nicht jede Nacht bei ihr sein. Vielleicht war es ja auch besser, wenn er nicht da war.
Ihre Augenlider zuckten vor Erschöpfung, sie schloss sie für einen Moment. Und schon spürte sie den Gürtel wieder, der ihr die Luft abschnitt… Sie riss die Augen auf und sah das Gesicht ihres Chefs im Türspalt.
»Sara, du bist ja immer noch da.« Er lächelte sie an.
Sie sprang auf. »Ich… meine Straßenbahn… ich hab noch Zeit.« Wie sollte sie ihm erklären, dass sie nur deshalb noch hier war, weil sie einem Jungen, der eigentlich nett war, aus dem Weg gehen wollte?
»Die Zeit kriegst du aber nicht bezahlt.« Er zog den Kittel aus.
»Ich weiß.«
»Wollte es nur klarmachen. Du machst deine Arbeit wirklich gut.« Er lächelte und hängte seinen Kittel an die Tür. Darunter trug er helle Hosen und ein gelbes Poloshirt. Ziemlich geschmacklos, dachte Sara. »Danke.« Sie sollte jetzt gehen. Es war so eng in diesem Raum…
»Gute Mitarbeiter sind selten. Leute, die sich verantwortlich fühlen«, redete er weiter und strich sich mit beiden Händen das spärliche aschblonde Haar glatt. »Die meisten wollen einfach nur irgendeinen Job. Ich wollte dir nur sagen,
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