Puppenrache
die ganze Wahrheit.
»Ich rief also Ambers Mutter an«, sprach sie schließlich weiter. »Und als sie sagte, Pat sei um Viertel vor fünf bei Ihnen weggegangen, hab ich mir Amber geben lassen. ›Amber‹, hab ich gesagt, ›bitte sag mir ganz ehrlich, ob Patricia einen Freund hat. Trifft sie sich jetzt heimlich mit einem Jungen?‹ Amber war ziemlich irritiert und sagte dann Nein, von einem Jungen wüsste sie nichts. Da wusste ich, dass etwas passiert war.
Ich probierte es immer wieder auf Patricias Handy, aber es blieb ausgeschaltet. Ich lief die Straße hoch und runter, ich rief die Polizei an. Aber sie konnten noch nichts unternehmen. Und dann erzählten sie mir, dass es doch völlig normal sei, dass eine Fünfzehnjährige mal später nach Hause käme. Es sei ja längst noch nicht zehn.
Ich rief alle möglichen Leute an, die ich kannte, auch Pats Vater. Alle versuchten, mich zu beruhigen. Dann hab ich es aufgegeben und hab einfach gewartet – und… und gebetet. Diese Stunden waren die schlimmsten meines Lebens.« Sie drehte sich zu ihm um. Die Strenge um ihren Mund herum war verschwunden und einer tiefen Traurigkeit und Verzweiflung gewichen.
Stephen fühlte einen Kloß in seinem Hals und in seinem Innern zog sich etwas zusammen. »Es tut mir so leid«, sagte er leise und meinte in dem Moment alles. Ihr Schicksal, das von Sara, sein eigenes und das der toten Mädchen, die auch Moms und Dads gehabt hatten, die auf sie gewartet hatten.
Nora Cummings schlang die Arme um sich. »Gegen halb acht morgens klingelte es an der Haustür. Ich sprang auf, ich hatte die ganze Nacht auf der Couch gesessen und das Telefon angestarrt.« Sie schluckte. »Als ich die uniformierte Polizistin gesehen habe, war ich sicher, dass sie tot ist. ›Ihre Tochter Patricia ist auf der Polizeistation‹, hat sie mir gesagt. Ich weiß nicht mehr, was mir da alles durch den Kopf gegangen ist. Sie hatte einen Unfall, sie hat Drogen genommen, sie ist in eine Schlägerei gekommen und ja, an eine Vergewaltigung hab ich auch gedacht.«
Sie sah Stephen in die Augen und jetzt wurde ihr Blick fest und die Strenge kehrte zurück. »Dieser Kerl hat sie nach Hause fahren wollen. Er ist mit ihr zwei Stunden durch die Stadt gefahren, hat immer behauptet, gerade noch etwas erledigen zu müssen, hat sie vertröstet und dabei ihre Angst genossen. Mein Gott, sie war fünfzehn! Auf einem abgelegenen Weg hat er sie schließlich in den Kofferraum gesperrt und dann ist er mit ihr noch mal eine Stunde rumgefahren, raus aus der Stadt. An einem Waldstück hat er angehalten, Patricia mehrmals vergewaltigt und gewürgt, bis er dachte, sie sei tot. Dort hat er sie dann liegen lassen. Im Morgengrauen, als sie wieder wach wurde, ist sie zur Straße gelaufen.« Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, stützte sich mit beiden Armen auf die Platte und sah ihm so hasserfüllt in die Augen, dass Stephen unwillkürlich zurückwich. »Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, hätte ich ihn im Gerichtssaal erschossen. Obwohl er einen viel, viel grausameren Tod verdient hätte.«
Nora Cummings Stimme war so kalt und entschlossen, dass Stephen erschauerte. »Ich verstehe, was Sie…«, sagte er.
»Wie konnte er es wagen, so etwas zu tun!«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Wie konnte er nur! Sie konnte ihn anhand einer Verbrecherkartei eindeutig identifizieren. Ein anderes Mädchen war etwa drei Monate vorher entkommen und hatte eine ungefähre Beschreibung geben können. Zwei Tage später hat ihn die Polizei im Haus seiner Mutter verhaftet. Anhand von DNA-Proben wurde er als Vergewaltiger und Mörder in weiteren Fällen identifiziert. Er hat alles gestanden und dafür fünfundzwanzig Jahre bekommen.«
Stephen spürte, wie ihm schwindlig wurde. Wie hatte Sara ihm all das nur verheimlichen können?
Nora Cummings ließ sich in ihren Bürosessel sinken.
»Und wie konnte er es wagen, ihr noch aus der Untersuchungshaft heraus zu drohen? Ich hätte ihn umbringen sollen, irgendwie! Als Patricia Drohbriefe bekam und sich in unserem Garten ein Typ herumtrieb, nahm es die Polizei endlich ernst. Gleich nach dem Prozess wurden wir ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Bekamen neue Identitäten, neue Pässe, mussten umziehen, durften keinen Kontakt mehr zu Freunden haben und sollten uns auch nicht mehr anrufen – da man ein undichte Stelle bei der Polizei nicht ausschloss.« Sie schüttelte den Kopf. »Und jetzt ist er auch noch ausgebrochen! Gibt es so was? Heutzutage? Wo sie überall weiß
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