Puppenspiel - Inspektor Rebus 12
»jedenfalls mehr als ich zunächst geglaubt habe.«
»Schon möglich«, sagte er.
Obwohl der Minutenzeiger noch nicht ganz auf zwölf stand, setzte sich die Uhr plötzlich in Bewegung. Inzwischen hatten sich etliche Besucher vor dem Wunderwerk eingefunden, und die Kinder standen mit offenem Mund da, als der Mechanismus mit den abstoßenden Figuren plötzlich zum Leben erwachte. Schellen klingelten, und dann erscholl eine geradezu unheimliche Orgelmusik. Das Pendel bestand aus einem polierten Spiegel. Als Rebus genauer hinsah, entdeckte er, dass sein Spiegelbild und dahinter das ganze Museum in einem bestimmten Rhythmus immer wieder für Sekundenbruchteile aufblitzten. Die Zuschauer waren völlig gebannt.
»Lohnt schon, sich das aus der Nähe anzuschauen«, sagte Jean Burchill. Also standen sie auf und gingen zu den übrigen Gaffern hinüber. Rebus war nicht ganz sicher. Aber er glaubte, einmal kurz gesehen zu haben, wie eine Hitler- und eine Stalinfigur an den beiden Enden einer gezackten Säge zogen.
»Und dann wäre da noch etwas Merkwürdiges«, sagte Jean Burchill neben ihm. »Es gibt nämlich noch weitere Puppen, die an anderen Orten aufgetaucht sind.«
»Was?« Er riss widerstrebend den Blick von der Uhr los.
»Am besten, ich lasse Ihnen einfach mal das ganze Material zukommen, das sich bei mir angesammelt hat...«
Den Rest des Freitags wartete Rebus nur noch darauf, dass seine Schicht endlich zu Ende war. An der Pinnwand hing ein Foto von David Costellos Garage neben all den anderen Hinweisen. Der junge Mann war augenscheinlich Besitzer eines dunkelblauen MG-Kabrios. Die Kriminaltechniker hatten zwar keine Genehmigung gehabt, den Wagen und die Reifen erkennungsdienstlich zu untersuchen, sie hatten allerdings die Augen offen gehalten. Offenbar war der Wagen schon seit einiger Zeit nicht mehr gewaschen worden. Wäre es anders gewesen, hätte man David Costello natürlich nach dem Grund gefragt. Außerdem hatten die Kollegen weitere Fotos von Philippas Freunden und Bekannten gesammelt und Professor Devlin vorgelegt. Dabei hatten sie auch ein paar Abzüge, auf denen David Costello zu sehen war, zwischen die übrigen Fotos geschmuggelt, was Devlin als »unerträgliches Täuschungsmanöver« empfunden hatte.
Inzwischen waren seit jenem Sonntagabend fünf Tage vergangen, fünf Tage seit Philippas Verschwinden. Je intensiver Rebus die Papiere an der Pinnwand inspizierte, umso weniger sah er. Ihm fiel wieder die Millenniumsuhr ein. Bei der Uhr hatte es sich genau umgekehrt verhalten: Je länger er sie angeschaut hatte, umso mehr hatte er gesehen - kleine Figuren, die plötzlich aus dem bewegten Gesamtmechanismus herausgetreten waren. Die Uhr schien ihm jetzt wie ein Monument für alle Verlorenen und Vergessenen. Und auch die Papiere an der Wand - all die Fotos, Faxe, Dienstpläne, Skizzen - waren eine Art Monument. Allerdings eines, das anders als die Uhr am Ende der Ermittlungen in seine Bestandteile zerlegt und in einer Schachtel verstaut in einem Lagerraum verschwinden würde - eine Ansammlung bedeutungsvoller Dinge, deren Wichtigkeit auf die Dauer der Fahndung begrenzt war.
Er hatte schon so oft vor dieser Wand gestanden: andere leiten, andere Fälle, die nicht alle zur allgemeinen Zufriedenheit hatten aufgeklärt werden können. Natürlich war man bemüht, sich von den jeweiligen Schicksalen emotional zu distanzieren, objektiv zu bleiben, wie man es in der Ausbildung gelernt hatte, aber das war gar nicht so einfach. Sicher kein Zufall, dass der Farmer sich bis heute an den kleinen Jungen erinnern konnte, mit dem er es bereits in der ersten Woche nach seinem Eintritt in den Polizeidienst zu tun gehabt hatte, auch Rebus hatte da seine Erinnerungen. Und so fuhr er nach Feierabend heim, duschte, zog sich um und saß dann eine gute Stunde mit einem Glas Laphroig in der Hand in seinem Sessel und hörte die Rolling Stones - genau genommen Beggars Banquet -, und bei dem einen Glas blieb es natürlich nicht. Neben ihm am Boden lagen die Teppiche aufgerollt, die sonst im Gang und in seinem Schlafzimmer den Boden zierten. Matratzen und Garderobenständer, Schubladen, das Zimmer war eine einzige Müllhalde. Trotzdem gab es eine klar begrenzte Gasse, die von der Tür zu seinem Sessel führte, und eine weitere, die den Sessel mit der Stereoanlage verband, und mehr brauchte er nicht.
Nach den Stones blieb ihm immer noch ein halbes Glas Malt, also noch eine Platte. Bob Dylans Desire, der Song »Hurricane«, ein Lied,
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